Ministerin steht vor den Supertrees
Bildrechte: Bayerisches Staatsministerium für Digitales

Judith Gerlach in Singapur

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Digitalisierung: Ministerin Gerlach will von Singapur lernen

Deutschland steckt fest bei der Digitalisierung der Verwaltung. Bayerns Digitalministerin Judith Gerlach hat sich bei einer Reise nach Singapur Anregungen geholt. Dreh- und Angelpunkte: ein digitaler Ausweis und eine schlagkräftige Behörde.

Man kann sich fragen, warum ein so kleines Land wie Singapur Vorbild für digitale Dienste in Deutschland sein soll. Zumal die Führung ein eigenes Verständnis von Demokratie hat, Demonstranten riskieren Gefängnis, Homosexualität steht unter Strafe. Doch Bayerns oberste Digitalisiererin suchte wohl einfach Inspiration. Judith Gerlach sieht sich als Vorreiterin in Deutschland und hätte gerne mehr Tempo bei der Digitalisierung der Verwaltung. Das Onlinezugangsgesetz (OZG) des Bundes hat die öffentlichen Dienstleistungen in 575 Leistungsbündel unterteilt, die alle digital angeboten werden sollen. Es geht dabei um Dinge wie Einkommenssteuererklärung, Antrag auf Elterngeld, Kfz-Zulassung, etc.

Alle Bundesländer müssen mitmachen

Bayern kann sich immerhin auf die Fahnen schreiben, bei der Umsetzung der Leistungen zweitschnellstes Bundesland zu sein, nach Nordrhein-Westfalen. Die beiden lassen viele andere Länder deutlich hinter sich. Doch es hilft nichts, wenn ein oder zwei Länder vorneweg preschen. Eine digitale Verwaltung muss bundesweit funktionieren, wie Ministerin Gerlach findet.

Unternehmen versinken in analoger Bürokratie

Dass unter der mangelhaften Digitalisierung vor allem Unternehmen ächzen, zeigt der Fall eines Windkraftbetreibers aus Baden-Württemberg. Die Pressesprecherin des Unternehmens twitterte ein Foto, das den bürokratischen Aufwand für die Genehmigung von drei neuen Windrädern vor Augen führt - in Form eines fast nicht enden wollenden Akten-Schlauches. Ein Großteil der Arbeit würde gespart, könnte das Unternehmen die Anträge digital einreichen.

Was kann nun aber eine Reise nach Singapur tatsächlich zur Bewältigung des Digital-Staus in Deutschland beitragen? Gerlach wollte sich neue Anregungen holen, im Stadtstaat der vernetzt sei, wie kaum ein anderes Land der Erde. "Schon heute geht in Singapur fast alles per Handy", schwärmt die bayerische Ministerin. Eine Steuererklärung dauere dort nur zwanzig Minuten am Bildschirm.

Eine Monsterbehörde für die Digitalisierung?

Der Motor für die öffentliche Digitalisierung in Singapur ist die staatliche Digitalagentur GovTech, die seit 2016 Digitalisierungsprojekte der Regierung umsetzt. Laut Gerlach hat die Agentur 3.500 Mitarbeiter, davon 1.000 Entwickler. "Sowas wäre auch toll für Deutschland", sagt die Ministerin im Interview. Es ist allerdings fraglich, ob das Beispiel wirklich übertragbar wäre. Eine simple Rechnung: Deutschland ist mit seinen 84 Millionen Einwohnern rund 15 mal so groß und mit seinen 16 Bundesländern, den vielen Landkreisen und Kommunen, sicher nochmal um ein Vielfaches komplexer als Singapur.

Wäre demnach eine monströse Behörde mit mindestens 50.000 Mitarbeitern nötig, um Vergleichbares leisten zu können? Deutschland ist kompliziert und die Digitalisierung lässt sich sicher nicht durch eine Behörde allein stemmen. Vor allem: Woher sollen all die benötigten IT-Experten kommen, wo sich der Staat schon jetzt schwertut, solche Fachleute zu finden.

Henne-Ei-Problem beim ePerso

Deutschland hat bislang eine große Chance vertan, wie der Podcaster Ulf Buermeyer erklärt. Er hat sich gemeinsam mit einem Kollegen wochenlang die Probleme bei der Digitalisierung genau angesehen und die Ergebnisse im Politikpodcasts "Lage der Nation" veröffentlicht.

Seiner Meinung nach hätte der Staat die Bürgerinnen und Bürger bei der Digitalisierung viel besser ins Boot holen können, wenn die digitale Ausweisfunktion bei neu ausgestellten Personalausweisen standardmäßig eingeführt worden wäre. Da sich aber die Menschen entscheiden können und es kaum sinnvolle Anwendungen für den ePerso gibt, entscheiden sich viele eben dagegen. In den Kommunen schleppt sich die Digitalisierung nun wiederum, weil es zu wenig Menschen gibt, die sich digital ausweisen können. Ein klassisches Henne-Ei-Problem, meint Buermeyer.

Insellösungen als Hemmschuh

Ulf Buermeyer, der nicht nur Podcaster und Jurist ist, sondern auch Hobbyprogrammierer, stieß bei seinen Recherchen noch auf ein anderes großes Problem, das den Fortschritt hemmt: In den Ämtern wimmelt es von Insellösungen. Jede Behörde handelt selbst Softwareverträge aus, oder schreibt eigene Lösungen. So wurden etwa in der Corona-Pandemie keine einheitlichen Datenbanken zur Erfassung der infizierten Personen beschafft, sondern jedes Gesundheitsamt bastelte sich seine eigene Lösung.

Solche Insellösungen können aber die Zusammenarbeit von verschiedenen Behörden extrem erschweren. Buermeyer fordert deshalb einheitliche Schnittstellen. Die müssten deutschlandweit oder noch besser europaweit gelten. Behördenleitungen dürften also nur noch Software einkaufen, die zu diesen einheitlichen Standards passt. Man kann sich das vorstellen, wie bei einem Textbearbeitungsprogramm. Dateien, die im Doc-Format abgespeichert werden, lassen sich auch mit anderen Computern öffnen und bearbeiten, auf denen andere Textprogramme laufen. Ein Text, der dagegen in einem nicht-kompatziblen Format abgespeichert wurde, ergibt nur kryptische Zeichen. Auf die Behörden übertragen bedeutet das: Datenaustausch geht reibungslos nur mit offenen Schnittstellen.

Judith Gerlach wertet ihre Singapur-Reise als Erfolg. Sie kehrt mit neuen Ideen nach Hause zurück, wie sie betont. Als erstes will sie jetzt der Bundesregierung in Berlin einen konkreten Vorschlag unterbreiten, um dem digitalen Ausweis hierzulande zum Durchbruch zu verhelfen.

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