Frau mit Buchstapel vor dem Kopf
Bildrechte: dpa/Bildfunk

Geht es jetzt der Literatur an den Kragen? Verlage lassen Bücher auf einen möglicherweise Minderheiten verletzenden Sprachgebrauch hin überprüfen

  • Artikel mit Audio-Inhalten

Zensur? Sensitivity-Reading spaltet die Buchbranche

Viele Verlage wollen sexistische, rassistische oder soziale Diskriminierung vermeiden und lassen ihre Bücher von Sensitivity-Readern prüfen. Dabei ernten sie auch Kritik.

Afrikanische Drogenhändler, devote Asiatinnen oder tuckige Homosexuelle: In Büchern oder Filmen werden Minderheiten oft zum Klischee. "Sensitivity-Reading" kann das ändern. Worum es dabei geht: Expertinnen und Experten prüfen, meist im Auftrag von Verlagen, Texte und Drehbücher auf Stereotypen hin, merken diskussionswürdige Textstellen an und machen, wenn erwünscht, Vorschläge, wie es vielleicht besser ginge. Die Idee kommt ursprünglich aus den USA, hierzulande wird sie kontrovers diskutiert.

Unsicherheit und Privilegien

Verlagsleiterin Ulrike von Stenglin vom Hanser Verlag, versteht die Aufregung nicht und glaubt, sie habe mit Unsicherheit und Privilegien zu tun. "Also die Unsicherheit: 'Darf ich das sagen, wird mir was verboten, ich habe doch immer diese historisch korrekten Begriffe benutzt, wieso darf ich das jetzt nicht mehr?' Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass sich viele ihrer eigenen Sprechpositionen gar nicht bewusst sind." Sie mache ihren Job jetzt seit 15 Jahren, sagt von Stenglin. "Vor 12 Jahren hat sich niemand diese Fragen gestellt. Heute geht es auch um die Frage: Wen adressieren wir eigentlich - und wie kommt unsere Botschaft an?"

Kritiker sehen in Sensitivity-Reading die Zensur von Autorinnen und Autoren – und das Ende der Literatur. Sensitivity-Reading würde die Vielfalt nicht fördern, sondern einschränken, da Autorinnen und Autoren dadurch nicht mehr frei schreiben könnten. Und Literatur lebe gerade von Vielstimmigkeit, der persönlichen Perspektive, dem ganz eigenen Ton eines Schriftstellers.

Verlagswesen: Weiß, akademisch und Mittelschicht

Andererseits ist es nichts wirklich Neues, dass Texte vor der Veröffentlichung kritisch geprüft werden: Nennt sich Lektorat und ist gängige Praxis im Literaturbetrieb. Nur hat sich Sprache so sehr verändert, dass das heute nicht mehr reicht, so Verlegerin Ulrike von Stenglin: "Wir sind sehr weiß, Mittelschicht, akademisch." Da das deutsche Verlagswesen generell so aussehe, könne es nicht schaden, sich dem Thema zu öffnen. "Am Ende muss das natürlich jede Person selbst entscheiden, die an den Texten arbeitet. Es gehört eigentlich zu unserer täglichen Arbeit dazu, auch die eigenen Grenzen zu kennen", sagt die Verlegerin. Wenn sie früher ein hochphysikalisches Buch zu überarbeiten hatte, habe sie auch ein externes Experten-Lektorat hinzugezogen.

Der Kontext ist entscheidend

Ob Wörter und Formulierungen verletzend sind, das kommt sehr oft auf den Kontext an, sagt Schriftsteller und Lektor Georg M. Oswald. "Ich finde die Intention zu überprüfen, ob mein Text vielleicht jemanden verletzen könnte, den man gar nicht verletzen will, absolut ehrenwert und richtig. Nur ob die Methode, dafür ganz viele sprachliche Regelungen zu erfinden, die dann berücksichtigt werden müssen, die richtige ist, habe ich meine Zweifel."

Sensibilisiertes Prüfen von Texten bedeute deshalb nicht, einfach Wörter zu verbieten oder starre Sprachvorschriften zu machen. Überall das Gefühl zu haben, über sprachliche Minenfelder laufen zu müssen, könne nicht die Grundlage des Schreibens sein. Für Georg M. Oswald hat das auch damit zu tun, was Literatur eigentlich ausmacht: "Literatur handelt ganz wesentlich von menschlichen Grenzerfahrungen in jeder Hinsicht, und zwar von Spiritualität bis zu Gewalt, von Krieg und Frieden, Liebe und Hass. Selbstverständlich kann das auch belastend, anstrengend und schwierig, auch wunderschön sein, deshalb macht man es ja. Also wenn man 100-prozentig sicher sein will, dass man niemanden verletzt mit dem, was man publiziert, dann sollte man besser nicht publizieren."

Heute werden Achtsamkeit und Wertschätzung eingefordert

Man kann sich der aktuellen Debatte, Diversität im Literaturbetrieb neu zu schreiben, nicht mehr entziehen. Wo früher in Artikeln, Serien, Büchern und Filmen über die Diskriminierung von Minderheiten hinweggegangen wurde mit dem Anspruch, man solle doch bitte nicht so empfindlich sein, wird heute Achtsamkeit und wertschätzender Umgang verlangt – und das zu Recht. Und Sensitivity-Reading kann, wenn es klug gemacht wird, eine Methode sein, den eigenen Vorurteilen auf die Schliche zu kommen. Zugleich haben auch Autoren und vor allem ihre Texte ein Recht auf Respekt und Wertschätzung. Es bleibt also kompliziert.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!