Begriff "Zeitenwende" in hölzerneren Scrabble-Buchstaben gelegt.
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"Zeitenwende" ist Wort des Jahres 2022

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"Zeitenwende" als Wort des Jahres: Liebe der Deutschen zur Wende

Das Wort von der Wende erfreut sich bei deutschen Politikern größter Beliebtheit. Kein Wunder, dass nun die "Zeitenwende" des Bundeskanzlers zum Wort des Jahres 2022 gekürt worden ist. Eine kleine Sprachgeschichte.

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Es hätte ja auch der "Doppel-Wumms" für bezahlbare Energie werden können, mit dem uns Kanzler Olaf Scholz heuer bekannt gemacht hat: Davor hatte er als Finanzminister schon die "Bazooka" zur Bekämpfung der Corona-Krise herausgeholt. Nun ist aber die "Zeitenwende" das "Wort des Jahres" 2022 geworden. Olaf Scholz hatte diesen Begriff in seiner Regierungserklärung am 27. Februar vor dem Deutschen Bundestag aufs Tapet gebracht, um den "Epochenbruch" (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) zu unterstreichen, den die russische Invasion in die Ukraine bedeutet.

Scholz nannte den Begriff "Zeitenwende" in Rede

Scholz begann seine Rede mit den Worten: "Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen."

Begriff charakterisiert das Jahr 2022 gut

Ohne Zweifel charakterisiert dieses Wort das ausklingende Jahr sehr gut. Die Wende als solche genießt im Deutschen seit langem schon einen guten Ruf. Man denke an die "Mobilitätswende", die vor Jahr und Tag der deutsche Verkehrsminister und Gelegenheits-DJ Andreas Scheuer in den Mund nahm.

Im metaphorischen Wendekreis bewegen sich gerade Politiker gern. Als Helmut Kohl vorzeiten Bundeskanzler werden wollte, bemühte er die Formel von der "geistig-moralischen Wende", die dringend erforderlich sei und die dann ja mit seiner Wahl auf ihre Weise auch eintrat. Das alles geschah übrigens Anfang der 80er-Jahre, als – merkwürdige Koinzidenz – ein Sänger den Hit "Polonäse Blankenese" landete, der unter dem Künstlernamen Gottlieb Wendehals firmierte.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden hat das "Wort des Jahres" bekanntgegeben.
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Die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden hat das "Wort des Jahres" bekanntgegeben.

Deutschland und sein Verhältnis zur "Wende"

Grundstürzende, ganze Weltbilder ändernde Erkenntnisse pflegen wir seit der Entdeckung eines polnischen Astronomen "kopernikanische Wenden" zu nennen, und unvergessen Peter Altmaiers Satz auf der Nachhaltigkeitskonferenz der Vereinten Nationen in Rio 2012: "We call it Energy-Wende."

Vor der Energiewende kam – die ökologisch Bewussten unter uns erinnern sich – die Agrarwende und der vorletzte Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Rudi Ernst Krenz, erdreistete sich, die friedliche Revolution, die sich gegen ihn und die Seinen in der SED erhoben hatte, kurzerhand als "Wende" zu titulieren – ein Begriff, der sich seltsamerweise bis heute hält, so als sei da 1989 nichts weiter Außergewöhnliches passiert.

Wobei, mit dem nötigen Pathos garniert, kann einen bei 180-Grad-Wenden durchaus schon mal ein "Gefühl epochaler und zeitalterscheidender Wende" anwehen – wie Thomas Mann seinerzeit, als er seine "republikanische Wende" nach dem Ersten Weltkrieg zu erklären sich bemüßigt sah.

Vom "Wenderoman" bis zur "Asylwende"

Einen "Wenderoman", den Literaturkritiker hierzulande lange herbeisehnten, wird man im Werk des Großschriftstellers freilich vergeblich suchen. Thomas Manns persönliche politische Wende lag bekanntlich weit vor der erwähnten staatsstürzenden.

Nachdem 2018 der studierte Soziologe Alexander Dobrindt mit einem Zeitungsartikel die "bürgerlich-konservative Wende" einzuläuten verfehlt hatte, fühlte sich der ebenfalls christsoziale bayerische Ministerpräsident Markus Söder – im Setzen von gesellschaftliche Debatten steuernden Begriffen wie in rhetorischen Wendemanövern ein Könner – bemüßigt, den verbalen Vorschlag- beziehungsweise Wendehammer in die Hand zu nehmen und das Wort "Asylwende" in die Welt zu setzen. Ein scheinbar harmloser Terminus. Ist Wende doch positiv konnotiert und insinuiert als solche: Wende zum Guten. Die Asylwende als Lösung der "Asylkrise".

Auch bei Philosophen beliebte Metapher

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat 2006 in seinem modernen Klassiker "Zorn und Zeit" von der "neoautoritären Wende" geschrieben, die global zu beobachten sei. Er benutzte diesen Terminus mit Blick auf Law-and-Order-Politiker, die immer mehr auf polizeiliche Maßnahmen zurückgreifen und den vermehrten Einsatz von Überwachungskameras sowie Personenkontrollen forcieren, um die Bürger vorgeblich zu schützen.

Natürlich kann die Wende auch ganz unschuldig daherkommen: in Gestalt der Sommersonnenwende oder Kehrtwende. Der Frage "Ende oder Wende?" widmete der Sozialdemokrat Erhard Eppler einst ein ganzes Buch (1975).

Eine Wende, die der Deutschen liebstes Vehikel betrifft, hat es noch nicht in den allgemeinen Sprachschatz geschafft: die Autowende. Auch wenn der "Stern" 2017 schrieb: "Die Autowende – Warum der Verbrennungsmotor zum Auslaufmodell wird". Die Klimaaktivisten der "Letzten Generation", die derzeit auf den deutschen Straßen kleben und so den Verkehr blockieren, geben in ihren apokalyptischen Verlautbarungen dem Zeitenende den Vorzug – und demonstrieren doch mit Vehemenz dafür, dass sich umweltpolitisch eine Zeitenwende einstellt.

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