Es ist kein müßiger Streit um Worte, sondern möglicherweise das Ende von Putins Strategie. Er hatte seit dem Angriff auf die Ukraine Wert darauf gelegt, die militärische Auseinandersetzung stark verharmlosend als "Spezialoperation" zu bezeichnen und alle unter Strafe stellen lassen, die von einem "Krieg" sprachen, wegen "Diskreditierung der Armee". Es sollte wie eine beiläufige "Befriedungsaktion" aussehen, durchgeführt ausschließlich von Berufssoldaten, um die Russen nicht unnötig zu beunruhigen. Als sich schon bald herausstellte, dass doch Wehrpflichtige beteiligt waren, reagierte der Kreml umgehend und gelobte, die dafür Verantwortlichen zu maßregeln. Doch jetzt, wo die Fronten in Bewegung geraten sind und die ukrainischen Truppen große Territorien zurückeroberten und weitere "bedrohen", scheint Putin mehr und mehr ein Getriebener zu sein.
"Jetzt gibt es leider kein Zurück mehr"
Es ist mehr als bezeichnend, dass ausgerechnet bei der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zu lesen ist: "Die Stimmen werden lauter, dass es an der Zeit ist, die militärische Sonderoperation zu stoppen und zu einem vollwertigen Krieg überzugehen, mit der Mobilisierung von allem und jedem, weil wir sonst nicht gewinnen werden, ebenso wie die Forderungen, diejenigen zu bestrafen, die für den aktuellen Rückzug verantwortlich sind, den sie geradezu als 'Katastrophe an der Front' darzustellen versuchen." Der "Hauptgrund" für die Niederlagen sei die "Unterschätzung des Feindes", behauptet der RIA-Kolumnist, der den Mut aufbringt, die bisherigen Einlassungen des russischen Verteidigungsministeriums, wonach es sich um eine "Umgruppierung" handle, als "nicht beruhigend" zu bezeichnen.
"Jetzt gibt es leider kein Zurück mehr - nach dem Ende [des Krieges] wird es definitiv keine zwei Staaten desselben Volkes geben. Es wird entweder einen russischen Staat geben (unter Beibehaltung der formellen Unabhängigkeit der neuen Ukraine) oder eine große Ruine anstelle der gesamten russischen Welt", so der RIA-Autor Petr Akopow, der mit seinem Beitrag auch von "Pravda" zitiert wird.
Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow
Diese Formulierung deckt sich mit der Einschätzung des russischen Kommunisten-Chefs Gennadi Sjuganow, der auf Twitter mit den Sätzen zitiert wird: "Wie unterscheidet sich eine militärische Spezialoperation von einem Krieg? Sie können die Militäroperation jederzeit stoppen. Den Krieg können Sie nicht stoppen, er endet entweder mit Sieg oder Niederlage. Ich lege Ihnen die Auffassung nahe, dass ein Krieg im Gange ist und wir kein Recht haben, ihn zu verlieren. Keine Panik jetzt. Wir brauchen eine vollständige Mobilisierung des Landes, wir brauchen ganz andere Gesetze."
Später ruderte ein Sprecher der Kommunisten teilweise zurück, wonach Sjuganow "nur" von der Mobilisierung der "Wirtschaft und Ressourcen" gesprochen habe, nicht der Bevölkerung. Alles andere sei eine "Provokation".
Gerangel um Mobilisierung
Aus den Kreisen des ukrainischen Geheimdienstes wird behauptet, Putin persönlich sei für eine Mobilisierung zu haben, doch dessen unmittelbare Umgebung halte sie zum jetzigen Zeitpunkt, anders als im Juli, für "vollständig wirkungslos". Es drohe ein "Bürgerkrieg und der Zusammenbruch des Landes". Obendrein fürchte die Macht-Elite für den Fall einer militärischen Niederlage "eine große Zahl bewaffneter Menschen, die sich von der Führung verraten" fühlen könnte. Auch ein Teil der Generalität glaube, dass eine Mobilisierung jetzt zu spät käme.
"Das können wir nicht zulassen"
Nachdem bereits zahlreiche Kritiker des Kriegs wegen ihrer "falschen" Wortwahl Geldbußen zahlen mussten, ja manche sogar zu Haftstrafen verurteilt wurden, dürfte interessant sein, wie der Kreml eine mögliche Veränderung des Vokabulars den Russen erklärt. Der nationalistische Vorsitzender des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, versuchte es angesichts der militärischen Niederlagen mit einer sprachlichen Dramatisierung: "Das Vorgehen von Kiew hat die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe gebracht, das können wir nicht zulassen."
In den Telegram-Kanälen von russischen Nationalisten und von Rechtsextremen aus der Duma wird seit Tagen gefordert, aus der "Spezialoperation" einen "Krieg" zu machen und die gesamte Gesellschaft zu mobilisieren.
Will Putin kämpfen wie "Stalin"?
Dazu sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, "im Moment" komme eine Mobilisierung "nicht in Frage". Rechtsextreme wie der notorische Unruhestifter und Eiferer Igor Strelkow beschimpfen den Kreml inzwischen für seine aus ihrer Sicht unentschlossene Strategie und sprechen hämisch vom "Planeten der rosa Ponys": "Diejenigen Wesen, die auf dem Planeten der Russischen Föderation auf einige 'der Situation angemessene Entscheidungen' warten, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit neue erstaunliche strategische Anweisungen 'von oben' erhalten (Wenn sie überhaupt welche bekommen). Zum Beispiel: 'Nichts tun, hartnäckig durchhalten und darauf warten, dass die Partner einem ehrenhaften Frieden zustimmen.'"
Die im Ausland erscheinende "Novaya Gazeta Europe" analysierte Putins Herrschaftstechnik und kam zum Ergebnis, dass er mit voller Absicht zweitklassiges Führungspersonal suche, das ihm nicht gefährlich werden könne: "Im dritten Jahrzehnt seiner Regentschaft hat sich Putin seinen geheimen Traum erfüllt und versucht, wie Stalin zu kämpfen und zu herrschen, verfügt aber gleichzeitig über einen [trägen] zivilen und militärischen Apparat im Breschnew-Stil und besitzt nicht die stalinistische Unterdrückungs- und Manipulationstechnik Terror. Hoffen wir nur, dass er sich nicht auf sie versteht."
"Krieg ist Flächenbombardement"
Unterdessen wurde eine soziologische Studie veröffentlicht, für die zwischen Februar und Juni insgesamt 213 Russen nach ihrer Meinung zum Krieg befragt wurden. Ausführliche Zitate aus den Antworten finden sich im Netz. Dort sagt ein 26-jähriger Kreml-Anhänger: "Ist das ein Krieg? Krieg ist Flächenbombardement, es ist Krieg gegen ein anderes Volk und so weiter. In diesem Fall haben wir es mit einer Entnazifizierung zu tun, mit einer Operation zur Terrorismusbekämpfung, das heißt, wir zerstören nicht das Land, wir zerstören das Regime, das diesen Staat erobert hat." Diese Äußerung stammt jedoch vom März, also aus der ersten Phase des Kriegs.
Oksana Paramonowa, die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation "Soldatenmütter von St. Petersburg" sagte in einem Interview mit "Republic", die Anträge auf Ersatzdienst seien ihrer Beobachtung nach um "mindestens dreißig Prozent" gestiegen, "vielleicht sogar mehr". Im Oktober wird die nächste Generation der Wehrpflichtigen eingezogen.

Die Ukraine setzt ihre Offensive gegen die russischen Streitkräfte offenbar erfolgreich fort.
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