"Ist das Wahnsinn oder Betrug?" fragt sich der prominente russische Militärblogger Vladlen Tatarsky in einem Telegram-Post. Grund für seine Aufregung: Putin schaffe Panzereinheiten ohne Panzer, Aufklärer ohne Ferngläser und Drohnen, "mobile" Truppen ohne Fahrzeuge und Artillerie-Einheiten ohne eine einzige Granate. Im Übrigen seien die mobilisierten Rekruten "völlig inkompetent": "Was hat das für einen Sinn?" Auch andere Blogger, die Fronterfahrung haben, verweisen inzwischen offen auf ein dramatisches Ausrüstungsproblem der russischen Armee.
Die Truppe sei wie ein Zoologischer Garten: Es gebe dort alles, aber nur in Einzelexemplaren. Dieser Witz wurde aus gegebenem Anlass jetzt wieder in der "Prawda" zitiert. Dort beklagt Militärfachmann Andrej Nikolajew wortreich den traurigen Zustand der russischen Rüstungsbranche. Seit den neunziger Jahren habe sich Russland aufgrund knapper Kassen im Wesentlichen auf die Modernisierung betagter Waffen konzentriert, statt völlig neue zu entwickeln. Nikolajew schimpft darüber, dass die modernsten Geräte exportiert wurden, etwa nach Algerien, während innerrussische Panzermodelle teilweise "auf dem Niveau des letzten Jahrhunderts" seien.
"Russland bekommt die Reste"
In den letzten Jahren habe es zwar mehr Mut zur Innovation gegeben, doch von den angeblich hergestellten 2.500 zeitgemäßen Panzern seien nur etwa 650 in der russischen Armee angekommen, während nach Indien "ungefähr 1.000" geliefert worden seien. Ähnliches gelte für andere Waffensysteme. Präsident Putin persönlich gab dieser Einschätzung eine ironische Note, als er kürzlich bei einer Fabrik-Besichtigung in St. Petersburg darüber klagte, dass Russlands Auslands-Kunden all die Waffen zwar gerne entgegennahmen, aber keineswegs immer bezahlten: "Sie kommen ihren Verpflichtungen leider nicht vollständig nach."
Es sei ja gut, wenn Russland mit dem Export von Waffen in alle Welt Geld verdiene, bilanzierte "Prawda"-Berichterstatter Andrej Nikolajew seine Analyse, aber er habe den Eindruck, dass das Moskau sehr geschadet habe: "Für wen hat die russische Rüstungsbranche die ganze Zeit gearbeitet? Ja, sie hat für alle produziert, aber Russland selbst musste sich mit den Resten begnügen." Das widerspricht drastisch Putins jüngster Aufschneiderei, sein Land produziere mehr Munition als die ganze restliche Welt zusammengenommen.
"Handlungsspielraum des Kreml schrumpft"
Der in Russland viel gefragte Politologe Wassili Kaschin machte denn auch eine ganz andere Rechnung auf: "Die russischen Ressourcen sind natürlich geringer als die westlichen", sagte er in einem Interview in aller Klarheit. Allerdings müsse der Kreml derzeit auch nur an einer Front kämpfen, während die Vereinigten Staaten viele Krisenherde im Auge behalten müssten, darunter neben China auch Nordkorea und den Iran. Deshalb hofft Kaschin darauf, dass es dem Westen trotz seiner wirtschaftlichen Überlegenheit nicht möglich sein werde, Russland eine "vernichtende strategische Niederlage" zuzufügen.
Allerdings rechnet Kaschin im besten Falle mit einem Waffenstillstandsabkommen nach dem Vorbild von Nord- und Südkorea, bei dem Russland bisher eroberte Gebiete halten kann, jedoch keinerlei Einfluss mehr haben werde auf das übrige Territorium der Ukraine, wo der Westen machen werde, was immer er will. "Genau genommen kennen wir die endgültigen Ziele der russischen Operation nicht, und sie veränderten sich eindeutig im Verlauf der Kampfhandlungen", so Kaschin skeptisch: "Andererseits, da Russland immer mehr in diese Militäraktionen investiert, schrumpft auch der Handlungsspielraum der russischen Führung."
"Übergang zur Kriegswirtschaft"
Der unabhängige russische Fachmann Alexander Khramschikin erinnerte daran, dass es für den Kreml unkalkulierbar teuer wird, die Rüstungsbranche auf ein konkurrenzfähiges Niveau zu bringen: "Eine signifikante Steigerung der Produktion von Ausrüstung wird enorme finanzielle Aufwendungen erfordern. Das wird jedoch offensichtlich nicht mehr als Problem angesehen, da der militärisch-industrielle Komplex der Russischen Föderation tatsächlich zur Kriegswirtschaft übergeht."
Mit anderen Worten: Putin will demnach jeden Preis zahlen, um seinen Angriffskrieg nicht zu verlieren - mehr ist ohnehin nicht mehr drin. Dabei soll sie Skepsis im innersten Kreis der Macht stetig wachsen, wie es in Telegram-Kanälen heißt, die Verbindungen zum ukrainischen Geheimdienst haben sollen.
"Wir haben nicht unendlich viel Zeit"
Der russische Militärblogger Alexander Sladkow, mit 1,1 Millionen Followern einer der meist gelesenen seiner Zunft, schätzt die Möglichkeiten der russischen Rüstungswirtschaft ähnlich düster ein: "Im Westen gibt es viel Geld, sehr viel sogar. Irgendwann stehen wir vielleicht dem gesamten militärisch-industriellen und finanziellen Potenzial des vereinigten Westens gegenüber. Konkret haben wir noch eine Chance, aber irgendwann werden sie [der Westen] an Fahrt aufnehmen. Und dann wird die Zeit gegen uns arbeiten. Natürlich ist der Westen nicht die ganze Welt, aber der Rest der Welt hat es nicht eilig, uns zu unterstützen und bestenfalls Neutralität zu wahren. Wir haben also keinen unendlichen Vorrat an Zeit." Ab einem "bestimmten Punkt" werde es immer schwieriger, der NATO zu widerstehen.
Der im Westen lebende Militärfachmann und Historiker Juri Fedorow zog einen Vergleich zum Zweiten Weltkrieg. Die USA unterstützten die Ukraine derzeit mit ähnlich hohen Zuwendungen wie einst die Sowjetunion gegen Hitler. Eine einzige Patriot-Flugabwehrbatterie samt Raketenvorrat koste rund eine Milliarde US-Dollar, insgesamt addierten sich die Rüstungshilfen mittelfristig auf vierzig Milliarden US-Dollar jährlich: "Im verbündeten Westen – den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, der NATO – ist eine Entscheidung gefallen: Russland muss besiegt werden." Gleichzeitig verweisen Experten allerdings darauf, dass der Westen immer noch Russlands Haushalt aufbessere, denn Öl und Gas würden teilweise über Drittländer importiert.
"Wir müssen aus der Sackgasse raus"
In der "Washington Post" heißt es, die USA belieferten die Ukraine nach einer "dramatischen Neubewertung" der Lage auch deshalb massiv mit weiteren schweren Waffen, weil der Krieg ansonsten Jahre dauern könne: "Wir müssen irgendwie aus der Sackgasse herauskommen." Wie vieles an diesem Krieg erinnert auch das an den Ersten Weltkrieg, als alle Beteiligten auf "Materialschlachten" setzten und verzweifelt versuchten, den Gegner mit immer mehr Aufwand in die Knie zu zwingen. Allerdings waren die Vereinigten Staaten damals damit erfolgreich: Den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn ging die Puste aus.
Juri Sak, ein Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums, wird mit dem Satz zitiert: "In der Koalition unserer Verbündeten wächst inzwischen das Verständnis dafür, fast schon die Überzeugung, dass man einen Feind wie [Russland] nicht aufhalten kann, indem man mit ihm verhandelt oder Angst vor einer Eskalation hat. Du stoppst sie, indem du sie besiegst. Der Feind ist rücksichtslos."
"Putins Erpressung nicht nachgeben"
Im US-Fachblatt "The Atlantic" vertritt Experte Eric Schlosser die Auffassung, Putins Drohung mit seinem Atomwaffenarsenal sei zwar gefährlich, doch am gefährlichsten sei es, seiner "Erpressung" nachzugeben. Der Westen solle also ungeachtet dessen die Entscheidung auf dem Schlachtfeld suchen, womit zumindest die finanzielle Eskalation vorgezeichnet wäre.
So oder so beschleichen russische Politiker offenbar düstere Ahnungen, dass das Wettrüsten nicht zu gewinnen sein wird. Alexej Schurawlew, Stellvertretender Vorsitzender im Verteidigungsausschuss des Parlaments, befürchtete ein "blutiges Chaos", falls die USA weitere Hilfspakete für die Ukraine schnürten.
Aus Artillerie-Soldaten werden Infanteristen
In russischen Medien wird neuerdings erstaunlich unverblümt über eine Welle von Deserteuren berichtet, von denen viele auch deshalb die Front verlassen, weil sie gar keine oder völlig unzureichende Waffen haben. Andere entwenden ihre Gewehre und sogar LKWs. Schlagzeilen machte eine Truppe aus Jaroslawl, die sich ukrainischer Artillerie gegenübersah und keine eigenen vergleichbaren Waffen hatte, woraufhin der Kompaniechef den Rückzug befohlen haben soll: "Sie wollten uns Fahnenflucht vorwerfen."
Militärkorrespondent Alexander Kots berichtet darüber, dass die russische Armeeführung inzwischen heimlich aus Artilleriesoldaten mangels Ausrüstung Infanteristen macht: "Wie es dazu kommen konnte, ist nicht ganz klar." Jedenfalls säßen die "Fußtruppen" jetzt "ohne Aufgabe" herum und warteten auf ihr weiteres Schicksal. Gleichzeitig wird in russischen Telegramm-Kanälen täglich um Spenden für "Winteruniformen, Generatoren, Geländewagen und vieles mehr" gebettelt, weil die Armee das alles offenbar nicht zur Verfügung stellen kann.
"Das Kulturelle wird im Vordergrund stehen"
"Einige Sachen fehlen ernsthaft", klagt ein weiterer Blogger, etwa kampfstarke Drohnen, die gepanzerten Fahrzeugen gefährlich werden können. Er wünscht sich Fabrikate aus Israel oder dem Iran, von russischen Produkten ist mangels Angebot keine Rede. Die Belieferung der Ukraine mit westlichen Fabrikaten mache die Lage für die Russen jedenfalls "äußerst schwierig": "Darin steckt auch viel moderne Artillerie, was auf dem Schlachtfeld ein entscheidender Faktor ist."
Propagandisten wie der Oligarch Konstantin Malofejew bereiten ihre Landsleute darauf vor, dass die deutlich steigenden Ausgaben für die Rüstungsindustrie auf Kosten des Wohlstands gehen werden. Der Konsum sei nicht mehr der passende Maßstab: "Das bedeutet, dass in unserem Land das Spirituelle , Kulturelle, Ideologische im Vordergrund stehen wird."
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!