Sind die russischen Diplomaten etwa allesamt zu den Amerikanern übergelaufen? Mancher empörte Nationalist wäre darüber offenbar nicht überrascht. So löste der stellvertretende russische Außenminister Alexander Pankin im eigenen Land einen wahren Wut-Tsunami aus, weil er in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur TASS klarstellte, dass Russland nicht daran denkt, aus der Welthandelsorganisation WTO und dem Internationalen Währungsfonds IWF auszusteigen. Solange Moskau an der Mitgliedschaft im IWF festhalte, könne es dort für seine Position werben und die "übermäßige Politisierung" der "globalen Finanzarchitektur" anprangern, argumentierte der Vize-Minister.
"Russlands eigenmächtiger Ausstieg aus der erwähnten Struktur würde höchstwahrscheinlich von unseren Gegnern als Weigerung dargestellt werden, bedürftige Länder und die globale Entwicklungsagenda als Ganzes zu unterstützen", so ein überraschend vorsichtiger Pankin, der vor einer "künstlichen Selbstisolation der russischen Volkswirtschaft" warnte, die sich negativ auf den Export auswirken werde.
"Wir bekommen keine Antworten"
Diese Argumentation überzeugte die "Ultra-Patrioten" nicht im Geringsten. Sie sprechen von "großer Verwirrung". In einem der populären Blogs mit 260.000 Followern wird sogar geargwöhnt, die eigenen Botschafter in London und Peking seien inzwischen "Einflussagenten" des Westens geworden, weil sie davor gewarnt hatten, dass die Ukraine demnächst mit Langstreckenraketen die Tiefe des russischen Territoriums angreifen werde.
Der kremlfreundliche TV-Propagandist Sergej Michejew, der ansonsten gern Drohungen gegen den Westen ausstößt, richtet seine verbale Munition neuerdings gegen die eigene Regierung: "Wir stellen seit einem Jahr eine ganze Reihe absolut berechtigter Fragen. Über Angriffe auf Brücken, Verkehrsverbindungen und andere Dinge. Aber wir bekommen keine Antworten. Nur Schweigen. Die Machthaber und das Militärkommando halten es für sinnlos, mit irgendjemandem über das Thema zu sprechen. Sie glauben, dass es unnötig ist, Antworten zu geben. Aus propagandistischer Sicht ist das falsch. Auf der anderen Seite führt das zu allerlei Gerüchten und Interpretationen, die nicht zu unseren Gunsten ausfallen. Damit die Gesellschaft etwas versteht, muss ihr die Sichtweise der Behörden vermittelt werden."
"Immer wieder Anlass, zu zweifeln"
Selbst kluge Geister wie Propagandist und Politologe Sergej Markow sprechen von "frohgemutem, aber bitterem Durcheinander" in der russischen Bevölkerung: "Unsere allseits geliebte Regierung ist dazu verpflichtet, dem Volk zu erklären, welche Strategie zum Sieg führen soll." Mit Grausen verweist Markow auf die Möglichkeit einer "sanften Kapitulation" Russlands in den Grenzen vom 22. Februar letzten Jahres, also unmittelbar vor Kriegsausbruch. Und nebenbei lässt der Experte seine Landsleute wissen, dass Europa am Ende des Winters "Rekord-Gasreserven" habe. Dass es "einfrieren" werde, sei also reine "Propaganda und Fantasievorstellung" gewesen.
Selbst die "Prawda" titelte im Licht der aktuellen Lage: "Es wird für Russland schwer werden, dem Kampf mit dem vereinigten Westen standzuhalten." Wirtschaftlich sei das Land unterlegen, militärisch gebe es Gleichstand. Die Elite müsse von "Verrätern" befreit werden, jeder Einzelne müsse "bedeutende Opfer auf dem Altar des Sieges" bringen - eine Umschreibung für drastische Wohlstandseinbußen: "Allerdings gibt unsere Regierung immer wieder Anlass, an ihrer Bereitschaft zu zweifeln, die staatlichen Interessen Russlands konsequent und kompromisslos zu verteidigen, da sie offensichtlich verspätete Entscheidungen trifft und dem dreisten Druck geopolitischer Gegner nachgibt, die ihre Schwäche wittern."
"Ich entschuldige mich zwölf Mal"
"Unsere Armee während des Kriegs zu reformieren, ist das Richtigste, was man tun kann", schimpfte Nationalist Igor Strelkow, der sich sage und schreibe für seine Kreml-Kritik zwölf Mal "entschuldigte", ironisch natürlich. So fragte Strelkow, ob Putin persönlich wohl unter das neue Gesetz falle, wonach aktive Kriegsteilnehmer nicht mehr beleidigt werden dürfen. Augenscheinlich sei Putin in den Krieg ja nicht involviert, außer vielleicht als "ehrenamtliches Mitglied" bei der Söldnerarmee Wagner. Im Übrigen werde er ab sofort öffentlich erklären, dass es in den russischen Reihen "keine Verluste" gebe und Munition "im Überfluss" vorhanden sei.
"Meine Augen öffneten sich plötzlich für die tiefste strategische Sinnhaftigkeit kontinuierlicher Frontalangriffe auf die am stärksten befestigten Stellungen des Feindes ohne ausreichende Artillerieunterstützung und in völliger Abwesenheit von Luftunterstützung", so Strelkow. Das American Center for Strategic and International Studies (CSIS) legte derweil Zahlen vor, wonach Russland seit dem Zweiten Weltkrieg in keinem anderen Konflikt so viele Gefallene zu beklagen hatte wie nach dem Angriff auf die Ukraine: Schätzungsweise 60.000 bis 70.000.
"Ukraine ist kein hilfloses Kind"
Strelkows Blogger-Kollege Vladlen Tatarski seufzte, es sei halt leicht, die Moral hochzuhalten, solange es militärisch vorangehe: "Wenn Sie zum zehnten Mal dieselbe Festung stürmen und alle, mit denen Sie Ihren Dienst begonnen haben, in der Nähe dieses verdammten Grünstreifens in Stücke gerissen werden, dann wird die Moral jeder Einheit schwinden." Tatarski fühlt sich an die Frühzeit des Boxens erinnert: "Damals schlugen sie solange aufeinander ein, bis einer umfiel." Tief frustriert verweist der Blogger darauf, dass Russland Abkommen über Getreide- und Ammoniak-Transporte unterzeichnet und seine Öl- und Gaslieferungen Richtung Westen nicht gestoppt habe. Es sei auch nicht gerade leicht, an die Front zu ziehen, "wenn der Schwiegersohn des Verteidigungsministers das Geschehen in seinen sozialen Netzwerken" tadelt.
Blogger und Ex-Politiker Alexander Chodakowski erinnert der so verwirrende wie blutige "Stillstand" an der Front an die Parabel vom "Kaukasischen Kreidekreis" von Bertolt Brecht. Dort kämpfen zwei Frauen um ein Kind. Der salomonische Dorfschreiber stellt es schließlich in einen Kreis und fordert die Widersacherinnen auf, solange an dem Buben zu ziehen, bis die Stärkere obsiegt. Doch die Auflösung ist überraschend: Er spricht das Kind derjenigen zu, die aus Mitleid loslässt, obwohl sie nicht die leibliche Mutter ist, sondern nur die Amme. "Die Ukraine aber ist kein hilfloses Kind", stellt Chodakowski klar, hier gehe es vielmehr um hohe Politik: "Deshalb dürfen wir ihr die Zähne ausschlagen."
"Unsere Zuschauer schüttelt es"
"Ich hasse Putin nicht für das, was er angefangen hat. Ich hasse ihn dafür, dass er versagt hat. Ich hasse Verlierer. Ich kann alles akzeptieren und verstehen. Aber ich werde niemals eine Niederlage verzeihen", schreibt der Blogger Alex Parker in seltener Offenheit, wobei er seinen Post um zwei Uhr morgens aus dem spanischen Refugium abschickte, möglicherweise nicht mehr ganz nüchtern. Wie viele Kollegen auch, ärgert er sich darüber, dass Putin den Krieg begonnen hat und jetzt insgeheim versuche, auf Verhandlungen zu setzen: "Irgendwie verrückt."
So sehen es wohl auch zahlreiche Zuschauer des russischen Fernsehens, denn die dortige Propagandistin Olga Skabajewa mühte sich kürzlich bemitleidenswert, ihr Publikum bei Laune zu halten: "Erst mal geht es um Russlands Überleben. Niemand plant aufzugeben! Niemand hat jemals davon gesprochen aufzugeben. Rückzug oder, Gott behüte, die Ziele der Spezialoperation aus den Augen verlieren? Nein, wir gehen bis zum Ende. Das ist für unsere Zuschauer wichtig, die es jedes Mal schüttelt, wenn sie Rufe nach Verhandlungen hören."
"Unscharfe und widersprüchliche Ideen"
Sogar Insider der russischen Diplomatie, wie der Politologe Iwan Timofejew, zweifeln an den Aussichten des Kreml, es mit den Großmächten wie den USA und China aufzunehmen. Dazu fehle eine plausible Ideologie: "Hat Russland eine eigene politische Philosophie? Die Antwort ist bisher eher negativ. Russland kehrte in seiner Außenpolitik zu den Prinzipien des Realismus zurück, was für seine Verhältnisse bereits eine Errungenschaft war. Aber es ist zu früh, um von einer systematischen und umfassenden politischen Philosophie zu sprechen." Stattdessen gebe es "unscharfe, manchmal widersprüchliche Ideen und Konzepte, deren Interpretation und daraus abgeleitete Slogans".
Damit umschrieb Timofejew für den "Russian Council", die Interessenvertretung der russischen Diplomaten, ziemlich genau die Ursachen, die zur oben erwähnten "Verwirrung" beitragen. Es fehlt demnach die Stetigkeit, die innere Konsistenz der Politik: "Vielleicht ist es der Zusammenbruch der UdSSR, der immer noch eine anhaltende und unbewusste Allergie gegen politische Philosophie hervorruft." Russland jedenfalls schwebe in der Gefahr, andere "mechanisch zu kopieren".
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