Nach der Veröffentlichung seines Enthüllungsbuchs "ZOV" (Der Ruf) über seine Erlebnisse als russischer Fallschirmjäger wechselte Pawel Filatjew (33) nach eigenen Worten täglich seinen Aufenthaltsort, bevor er Russland schließlich verließ. Seitdem gab er internationalen Medien wie dem britischen "Guardian" und dem oppositionellen russischsprachigen Portal "Mediazona" ausführliche Interviews, in denen er den Kreml beschuldigte, die Soldaten zu belügen und die Moral der Armee als "unterirdisch" bezeichnete.
Nur zehn Prozent der Menschen, die sich nach der Lektüre seines Antikriegsbuchs an ihn gewandt hätten, hätten ihn beschimpft, so Filatjew: "Kein einziger Soldat sagte mir, ich sei ein Verräter oder ein Feigling. Viele meiner Kollegen haben mir geschrieben, mich unterstützt und mir gedankt. Sie müssen es verdammt noch mal nicht, sie wissen halt nicht, wie sie sich verhalten sollen. Es ist einfach so, dass ich keine Frau und keine Kinder habe. Ich bin nicht verantwortlich für Fremde, nur für mich selbst."
"Wir sind zu Geiseln geworden"
Die Einnahmen aus den internationalen Ausgaben seines Buchs - Filatjew hofft auf Übersetzungen ins Englische, Deutsche und Französische - will er "bis zum letzten Cent" für die zivilen Opfer des Angriffskriegs in der Ukraine spenden. Verlage hätten sich bereits gemeldet, Übersetzer wollten kostenlos tätig werden.
Erste Auszüge aus "ZOV" wurden am 10. August vom Online-Portal "Istories" veröffentlicht. Dort war zu lesen: "Die meisten in der Armee sind unzufrieden mit dem, was dort passiert, unzufrieden mit der Regierung und ihrem Kommando, unzufrieden mit Putin und seiner Politik, unzufrieden mit dem Verteidigungsminister, der nicht in der Armee gedient hat." Russland habe einen "schrecklichen Krieg" begonnen: "Wir alle sind zu Geiseln vieler Faktoren geworden, wie Rache, Patriotismus, Geld, Verschuldung, Karriere, Panik. Ich glaube, wir spielen [auf Risiko]."
"Gesellschaft ist verängstigt"
Filatjew sprach von "schrecklicher Korruption und Chaos" in der Armee, tadelte einen eklatanten Mangel an Arzneimitteln, berichtete von Selbstverstümmelungen, von "Großmüttern", die aus Wut über die Zerstörungen vergiftete Kuchen angeboten hätten und kam zum Fazit: "Ich hatte keine Angst zu sterben, es war eine Schande, wegen dieser Scheiße mein Leben zu geben, es war nicht klar, wofür, für wen?" Er könne sich durchaus vorstellen, so der Ex-Soldat, "gegen den Kreml seine Waffe zu erheben".
Gegenüber "Mediazona" sagte Filatjew, der von sich behauptet, er versuche "objektiv" zu sein, über die innenpolitische Situation in Russland: "Das Land hat sich sehr verändert. Die Gesellschaft ist eingeschüchtert, verängstigt, alle suchen nach Worten, Jeder hat Angst, seine Gedanken aufrichtig und ehrlich auszudrücken." Die Moral der Armee sei buchstäblich am Boden: "Wofür [sie kämpfen] – sie wissen es nicht, aber Sie wissen, dass sie als Soldat kein Recht haben, sich zu blamieren. Gleichzeitig will die russische Armee nicht weiter kämpfen. Nicht aus Angst, sondern weil sie versteht, dass die Regierung sie in einen verheerenden Krieg hineingezogen hat. Ein problematischer Krieg, in dem es keine Wahrheit gibt. Die meisten Angehörigen der russischen Armee haben nicht das Gefühl, dass ihnen die Wahrheit den Rücken stärkt."
"Wir sind am Arsch, tut mir leid"
Das Militär sei "nicht blind" für die Verwüstungen, so Filatjew. Die zivilen Opfer seien ebenso unübersehbar wie die zahlreichen zerstörten Gebäude, das sei selbst "gewöhnlichen" Soldaten nicht verborgen geblieben: "Wir sind am Arsch, tut mir leid." Selbst Angehörige der Bereitschaftspolizei, die damit beschäftigt gewesen seien, Unruhen in den besetzten Gebieten hinter der Front mit Gummigeschossen zu bekämpfen, seien teilweise entsetzt und hätten den Dienst quittiert.
Der "Guardian" verweist darauf, Filatjew sei "einer von nur einer Handvoll russischer Soldaten", der sich bisher öffentlich gegen den Krieg gestellt habe, und zwar nach "Monaten der Qual". Verwunderlich sei es, dass die russischen Behörden nicht ernsthaft versucht hätten, den früheren Fallschirmjäger festzunehmen. Eine Anklage wegen Fahnenflucht sei wohl vorbereitet, aber nicht auf den Weg gebracht worden.
"Neun von zehn sind gegen den Krieg"
"Jetzt ist er ein veränderter Mann", so Interviewer Lukas Harding über Filatjew: "Er bleibt kräftig gebaut und wortgewandt, aber Krieg und Stress haben ihren Tribut gefordert. Seine vernarbten Wangen sind von einem zwei Wochen alten Stoppelbart bedeckt. Er kann mit seinem rechten Auge immer noch nicht richtig sehen. Und er lacht bitter darüber, dass er sich bei einem ausländischen Journalisten über die russische Armee beschweren muss."
Über die künftigen Rückkehrer aus dem Krieg sagte Filatjew übrigens "Mediazona": "Wenn sie zurückkommen, werden die Leute ihre Augen öffnen und ruhen, einfach zur Besinnung kommen. Und dann wird das Militär seine Regierung fragen – warum haben Sie das getan? Kein FSB, kein FSO [Geheimdienste], niemand wird ihnen helfen. Vor allem, wenn die Soldaten erkennen, dass das russische Volk auf ihrer Seite steht. Ich bin viel in Russland gereist, ich bin ein geselliger Mensch, es ist kein Problem für mich, jemanden kennenzulernen. Und in den letzten zwei Monaten sind neun von zehn gegen den Krieg. Aber die meisten haben Angst, es gleich zu sagen, weil es illegal ist, das zu sagen, das darf man nicht sagen."
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