Schrifstellerin Judith Hermann
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Schrifstellerin Judith Hermann

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"Wir hätten uns alles gesagt": Judith Hermann über das Schreiben

Seit ihrem Debüt "Sommerhaus später" vor 25 Jahren gilt Judith Hermann als die Stimme ihrer Generation. Jetzt hat sie mit "Wir hätten uns alles gesagt" ein faszinierendes Buch darüber geschrieben, wie ihr eigenes Leben und Schreiben zusammenhängen.

Es sei auf jeden Fall eine Zäsur, dieses Buch, sagt Judith Hermann. Das Buch, das eigentlich gar keins sein sollte. Sondern nur ein mündliches Auskunftgeben über ihr Schreiben vor Studierenden.

Judith Hermann wurde gebeten, die sogenannte "Frankfurter Poetikvorlesung" zu halten. Was in ihrem Fall bedeutet, etwas über die Kunst der Leerstelle zu sagen, die all ihre Texte ausmacht: das Etwas, das fehlt, das nicht zustande kommt, das nicht ausgesprochen wird. Und also auch über die Momente der eigenen Geschichte und Familie, die sich unmerklich in ihrer Literatur spiegeln.

Psychoanalyse als Hintergrund

Zum Beispiel, noch vergleichsweise harmlos, dieser Dr. Dreehüs. Er ist Psychoanalytiker, einer, den es wirklich gibt. Viele Sitzungen hat Judith Hermann bei ihm verbracht, auf Empfehlung einer Freundin - ähnlich wie eine Figur im Erzählband "Lettipark", die bei einem ähnlichen Psychoanalytiker landet. Er ist quasi der Mensch, der alle privaten Hintergründe zu Erzählungen und Romanen kennt. Sind sie wirklich gut bei ihm aufgehoben? Zu "Lettipark" äußert er sich zurückhaltend. Aber einmal nennt er das, was sie in der Analyse erzählt, etwas wehleidig. "Eigentlich krass, oder?", sagt Hermann im Gespräch über das Buch, in dem sie von dieser Analyse-Beziehung als einem Hintergrund ihres Schreibens berichtet. Weh und Leid, zwei schöne alte Wörter, immerhin, es lässt sich literarisieren. Die Kränkung wird entkräftet. Eine Analyse, in der man sich behaupten muss - und die Hermann schließlich abbricht.

Worum mag es in diesen Sitzungen gegangen sein? Da sind sie wieder, die Leerstellen. Doch im Laufe von "Wir hätten uns alles gesagt" gibt die Schriftstellerin viel von sich preis, vom jähzornig-bipolaren Vater, "der den Krieg in sich trug", von den Kriegsversehrungen der Großeltern, den Traumata quer durch die Generationen, vom Schweigen in der Familiengeschichte, von eigenen Fluchten. Wehleidig, naja. Für Hermann-Leserinnen blitzt das Haus am Meer auf, Väterfiguren, Großmütter. Die Freundschafts-Wahlfamilie der 90er Jahre, die den biographischen Hintergrund bildet für "Sommerhaus, später", das Sensationsdebut, mit dem die Schriftstellerin mit Ende 20 die literarische Welt beeindruckte.

Wohltuend zarte Offenheit

Der Titel, "Wir hätten uns alles gesagt", gehört zu einer Szene, in der das literarische Ich kurz davor ist, dem Freund solche Geheimnisse zu verraten. Typischer Hermann-Konjunktiv eigentlich, die Hermann-Vergeblichkeit. Aber, und das ist die Zäsur, von der die Autorin spricht - das Geheimnis wird tatsächlich verraten. Dem Freund, den Lauschenden in den Poetik-Vorlesungen, den Lesern und Leserinnen dieses Buchs. "Es hat mich gestärkt, mit dieser Geheimniskrämerei, die der Erzählerin vorgeworfen wird, aufzuhören“, nennt Hermann das, "man kann wachsen, auch wenn man schon erwachsen ist." Eine wohltuend zarte Offenheit in einer Zeit, in der autofiktionales Schreiben der Stil der Stunde ist und das Publikum von allen Seiten mit Bekenntnissen bedrängt wird.

Denn Leerstellen müssen natürlich auch nach diesem Buch bleiben. Und sogar ein doppelter Boden ist angelegt in "Wir hätten uns alles gesagt". Der Untertitel signalisiert deutlich, dass es irgendwie immer darum geht: "Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben". Ob das "Ich" in diesem Text als literarische Ich-Erzählerin zu verstehen ist oder direkt als Judith Hermann – das bleibt offen, vielleicht schwankt es auch. Im Gespräch greift die Schriftstellerin mal zum einen, dann zum anderen. Und auch der Text schwebt manchmal davon ins Ungefähre. Vielleicht ist es wirklich so passiert. Vielleicht auch nicht, schwer zu sagen.

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