Erika Mann wollte über dieses außergewöhnliche "Presselager" auch mal etwas schreiben: "The Press Camp, A Unique Establishment" sollte das entsprechende Kapitel in ihrem Buch "Alien Homeland" heißen, das die Tochter Thomas Manns dann aber wieder verwarf. Erika Mann gehörte 1946 zum großen internationalen Berichterstatter-Tross, der kurz nach Kriegsende nach Nürnberg gereist war, um über den Hauptkriegsverbrecherprozess zu berichten. Der Großteil von ihnen – John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Augusta Roa Bastos, Martha Gellhorn, Willy Brandt und Markus Wolf – war untergebracht im Schloss Faber-Castell in Stein bei Nürnberg.
- Zum Artikel: Die Nürnberger Prozesse - Angeklagte und Urteil
"German schrecklichkeit at its worst"
Von den Amerikanern in Beschlag genommen, bot das sogenannte "Bleistiftschloss" seinerzeit etlichen Beobachtern der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ein Obdach. Obwohl die Schlossanlage durchaus imposant ist, muss man eher zum Wort Obdach greifen, weil das Ganze doch eher Jugendherbergscharakter hatte mit Schlafsälen, in denen zu zehnt in Armeefeldbetten übernachtet wurde.
Das Presselager war eine Art Feldlager. "Dieses Presselager befindet sich in einem seltsamen Schloss, das von Mitgliedern der Faber-Bleistiftfamilie erbaut wurde", notierte John Dos Passos: "Es ist voll von nackten Damen aus grässlich weißem Stein, abscheulichen Treppen, [...] schrecklich designten goldenen Sesseln, Kronleuchtern, die einem auf den Kopf zu fallen drohen, ... German schrecklichkeit at its worst", resümierte der Autor von "Manhattan Transfer" seine Eindrücke. Das deckte sich mit der Wahrnehmung Peter de Mendelssohns, der in einem Brief an Hilde Spiel am 2. Dezember 1945 von "diesem schrecklichen Presselager" schrieb.
Cover: Uwe Neumahr: "Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ʹ46. Treffen am Abgrund"
Wie ein Literaturagent zu seinem Thema kam
Der promovierte Romanist Uwe Neumahr ist im Hauptberuf Literaturagent und arbeitet bei der Münchner "Agence Hoffman". Dem BR erzählt er, wie er auf das Thema seines Buches stieß: "Einmal war ich als Dozent an der Akademie Faber-Castell tätig. Das Unternehmen Faber-Castell unterhält eine Kunstakademie in Stein bei Nürnberg. Ich unterrichtete damals dort Kreatives Schreiben. Beiläufig sagte der Leiter der Akademie zu mir, da drüben im Schloss seien ja 1945/46 berühmte Autoren wie John Dos Passos als Korrespondenten untergebracht gewesen. Bei dem Namen klingelte alles bei mir, denn ich betreue als Literaturagent seinen Nachlass für den deutschsprachigen Markt. Und ich wusste von alledem nichts!" Neumahr begann zu recherchieren – und stieß auf eine faszinierende Geschichte.
Eine Art "Gruppe 46"
Das Schloss ist ein bis dato kaum beachteter literarhistorischer Ort. 1947 formierte sich am Bannwaldsee im Allgäu bekanntlich die "Gruppe 47". Bei der zufälligen Zusammenkunft so vieler interessanter Schriftsteller in Stein bei Nürnberg kann man von einer "Gruppe 46" sprechen: Gregor von Rezzori war dort als écrivain journaliste, Wolfgang Hildesheimer zeichnete im Gerichtsaal die Nazis auf der Anklagebank, Golo Mann berichtete für Radio Frankfurt aus Nürnberg, und auch Erich Kästner tummelte sich kurzzeitig dort im von ihm salopp so bezeichneten "Jahrmarktstreiben". Die spätere CBS-Fernsehlegende Walter Cronkite spielte abends Tischtennis im Schloss, und es wurde auch diniert, getanzt und kräftig gefeiert im Speise- und Ballsaal.
Gestöhnt wurde häufig über das "widerwärtige Essen" (US-Radiolegende William Shirer). Getrunken wurde nicht selten im Übermaß. An der großen Partybar, wo es oft weitaus lebhafter zuging als im Nürnberger Gerichtssaal, wo die Akribie obwaltete, wurden neue Cocktails kreiert. Ein konzentriertes Arbeiten kann unter diesen doch nicht gerade ruhigen Umständen kaum möglich gewesen sein. Es gab durchaus kuriose Personen unter den akkreditierten Journalisten. Ein Hochstapler fand sich auch unter den Pressevertretern: Walter Ullmann, der sich als "Chef des kubanischen Pressebüros" ausgab und "Dr. Gaston Oulmàn" nannte.
Schriftsteller und Literaturagent Uwe Neumahr
Erotische Verwicklungen
Was nur menschlich ist: Untereinander angebandelt wurde auch dort im Schloss. Gregor von Rezzori sprach rückblickend von "einer wüsten Zeit". Es gab vielerlei hetero- wie homoerotische Verwicklungen, etwa zwischen der amerikanischen Journalistin und Autorin Rebecca West vom "New Yorker" und dem amerikanischen Hauptrichter Francis Biddle. Beide verheiratet, beide fern der Heimat, hatten vor aller Augen ein Verhältnis damals. "Das Paar holte in Nürnberg nach, was ihm in der Heimat verweigert wurde", schreibt Neumahr. Das Presselager war auch ein Liebesnest. Bemerkenswert, dass Biddle und West es mit der Gewaltenteilung nicht allzu genau nahmen: Der Richter Biddle, Gegenstand der Berichterstattung, las vor Veröffentlichung gegen, was West über den Prozess und also auch über ihn schrieb. So offen für den Einspruch der Judikative ist die vierte Gewalt sonst selten.
Ein "Kaugummiprozess"
Rebecca West, die sich den "tintenverschmierten Zigeunern" zurechnete, die "sich das Recht verdient hatten", in der Festung Faber-Castell zu "kampieren", sexualisierte die Nazi-Verbrecher wie keine andere Berichterstatterin. Hermann Göring erinnerte sie an eine "Puffmutter".
"Das Symbol von Nürnberg war ein Gähnen", schrieb Rebecca West. Das zeigt, dass die Gerichtsverhandlungen doch sehr zäh gewesen sein müssen. Ein jüdischer Korrespondent sprach vom "Kaugummiprozess" – im direkten wie im übertragenen Sinne: Die Sache zog sich bei den Verhandlungen, weil jedes einzelne Dokument vor Gericht vorgelesen werden musste – und es wurde im Saal viel Kaugummi gekaut. Auch Angeklagten wie der antisemitische Hetzer Julius Streicher vom "Stürmer", der einstige Gauleiter Frankens, griff zum "chewing gum" der amerikanischen Siegermacht.
Uwe Neumahr gelingt eine eindrückliche Schilderung des Prozesses wie des Lebens im Schloss. Es ist, als würde man wie die Berichterstatter im Gerichtssaal mit Armeefeldstecher oder Opernglas an die mittlerweile weit entfernte Zeit sehr nah heranzoomen.
Uwe Neumahr. "Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ʹ46. Treffen am Abgrund", Verlag C.H. Beck
Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!