Eine weihnachtsfeier im postsowjetischen Russland
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Szene aus "Petrow hat Fieber" von Kirill Serebrennikow

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Wie eine Halloween-Parade durch das postsowjetische Russland

Der Autor Alexei Salnikow wurde für seine subtile Satire auf die russische Vorkriegsgegenwart, "Petrow hat Fieber", gefeiert. Jetzt hat Regisseur Kirill Serebrennikow das Kultbuch opulent verfilmt. Warum man lieber das Buch lesen sollte.

Da fährt also dieser hustende Petrow, der Held in Kirill Serebrennikows neuem Film "Petrow hat Fieber", im engen, schummrigen Bus durch das vorweihnachtliche Jekaterinburg. Die Schaffnerin hat sich schon mal als Snegurotschka, als Schneeflöckchen aufgetakelt – Prinzessin Schneeflöckchen besucht die russischen Kinder um den Jahreswechsel zusammen mit "Väterchen Frost".

Von Verzauberung jedoch keine Spur: Snegurotschka ist eine derbe Wuchtbrumme, ein Passagier ergeht sich in Rachefantasien gegenüber Politikern, Juden und Tadschiken. Und das Schulmädchen, das seinen Platz für einen Rentner frei macht, muss zum Dank seine obszönen Sexfantasien über sich ergehen lassen. Dem fiebernden Petrow schwindelt immer mehr der Kopf. Aller Alltagswahnsinn gipfelt darin, dass Petrows Freund Iwan wie aus dem Nichts auftaucht und den Bus anhält, um ihn zu einer Instant-Hinrichtung mitzunehmen. Petrow kriegt eine Schusswaffe in die Hand gedrückt und streckt zusammen mit einem Dutzend Outlaws eine Gruppe von Anzugträgern nieder, wahrscheinlich Politiker. Die Passagiere im Bus machen große Augen.

Keiner weiß, wo links ist, wo rechts, was gut ist, was böse

"Auf der einen Seite geht es mir in dem Film um eine paradoxe Lebenserfahrung, um das Absurde", sagt Regisseur Kirill Serebrennikow. "Dieser Dada mischt sich aber auf der anderen Seite mit der Realität. Das Undenkbare trifft auf die Wirklichkeit, so dass man nicht mehr weiß, wo rechts ist und wo links, wo das Gute ist und wo das Böse. Das ist der Zustand in Russland. Der Mensch verliert dabei an Bodenhaftung. Daraus resultiert ein tragisches Empfinden des Alltags, Melancholie und all diese Stimmungen, die das russische Leben im Kern ausmachen."

Serebrennikows Film um die Familie Petrow – die Petrowa, eine ewig müde und mordlüsterne Bibliothekarin, hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, lebt aber weiterhin mit ihm und dem gemeinsamen Sohn Petrow Junior zusammen – basiert auf dem jüngst auch auf Deutsch erschienenen russischen Kultroman "Petrow hat Fieber".

Der Autor Alexei Salnikow wurde für seine subtile Gesellschaftssatire gefeiert: Ebenso poetisch wie humorvoll grotesk zerlegt er die breite russische Vorkriegsgegenwart, die wie ein Schwamm alles aufsaugt und sich nicht um Widersprüche kümmert: kollektive Sehnsucht nach der sowjetischen Kindheit, Rassismus und Orthodoxie, Ideologie, Kapitalismus, westliche Popkultur, die Ninja Turtles und Dostojewskij. Ein einziger Trip wie im Fieberwahn, in dem sich eine moralisch völlig desorientierte Gesellschaft spiegelt.

Zwischen sowjetischer Vergangenheit und Putinscher Gegenwart

Kirill Serebennikow setzt diesen alltäglichen Wahn in einen opulent ausgestatteten Film um, der zweieinhalb Stunden zwischen Wirklichkeit und Phantasmagorien hin und her zuckt. Petrow, der gesichtslose Held, hat sich längst zwischen sowjetischer Vergangenheit und Putinscher Gegenwart verloren.

"Es geht in dem Film um die Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart. Aktuelle Traumata wollen die Menschen mit altem Aspirin behandeln. Aber die Ursachen für all die Gesellschaftsschmerzen liegen auch in der Vergangenheit. Es gelingt den Russen nicht, aus der Vergangenheit herauszutreten, sie ist uns immer auf den Fersen, sie beißt uns und manchmal heilt sie uns", sagt Regisseur Serebennikow

Detailverliebter Karneval statt politische Brisanz

Da, wo Kirill Serebrennikow zu immer neuen plötzlichen Szenenwechseln ausholt – in der Summe ergibt sich irgendwann ein kaleidoskopischer, und dadurch immer kryptischer werdender Filmrausch – belässt es der Schriftsteller Alexei Salnikow bei Anspielungen, die ebenso beiläufig wie mit präziser Wucht daherkommen. Petrow hört im Bus, wie die Leute vom Gold der Partei faseln, vom sowjetischen Gutschein für Sanatorien und "dass man jetzt alle, die an der Macht waren, an die Wand stellen müsse". Petrow stellt sich daraufhin "aus irgendeinem Grund", wie es im Roman heißt, Putin und Rossel vor, den Gouverneur des Jekaterinburger Gebietes. "Rossel lächelte fröhlich, Putin war ernst, aber mit dieser gewissen Ironie im Blick."

Diese lakonische Präzision, die den ganzen Roman durchzieht, verliert sich in Serebrennikows opulenter Verfilmung. Da wird alles fett aufgetragen. Dass Putin erschossen wird, kann der Regisseur nicht zeigen – das ist klar. Der Film jagt vielmehr wie eine boshaft grinsende Halloween-Parade durch das postsowjetische Russland. Serebrennikow macht aus dem Bewusstseinsschrott flimmernden, detailverliebten Karneval, da wo der Schriftsteller Alexei Salnikow auf politische Brisanz setzt.

Unbewältigte Traumata werden zu Gewalt

"Ich habe diesen Film wie eine poetische Erzählung aufgezogen, es gibt da einen eigenen Rhythmus, viele Alliterationen, einen eigenen Gedankenfluss. Alle fragen mich immer nach der politischen Message, aber mir geht es um einen poetischen Sinn", sagt Serebrennikow.

Dass es dieser freudlos-triste russische Karneval am Ende den Machthabenden leicht macht, auch noch einen Krieg anzufangen, der aber wiederum nicht "Krieg" heißen darf, sieht Kirill Serbrennikow selbstverständlich als Katastrophe: "Die unbewältigten Traumata, die da in unserer Gesellschaft im Inneren gären, drängen heute als Gewalt an die Oberfläche."

"Petrow hat Fieber" von Kirill Serbrennikow läuft ab sofort im Kino.

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