Alle Macht der Phantasie! Immer wieder fällt der 68er-Slogan an diesem Abend, der die Phantasie an die Macht wünscht. Er bildet den Schlusspunkt einer langen Liste von Forderungen, steht wie ein großes Ausrufezeichen im Raum. Und man begreift: So abgedroschen der Slogan heute wirken mag – allzu leicht kann man ihn sich als modischen T-Shirt-Aufdruck vorstellen, zum Lifestyle-Claim heruntergebrochen – für Regisseur Peer Ripberger bedeutet dieser Satz viel. Denn für ihn trifft er den Kern von 68: „Das ist die Renaissance der Utopie, die wir in 68 ganz zentral haben. Also die Frage, wie wollen wir leben, wie wollen wir die Zukunft gestalten und wo wollen wir uns hin entwickeln gesellschaftlich. Das sich erlauben, Utopien zu denken, das Spekulieren zu zulassen.“ Dass der Mut zur Utopie heute, in Zeiten behaupteter Alternativlosigkeit, nostalgischer Vergangenheitsbeschwörung oder zukunftspessimistischer Krisendiskurse höchst politisch ist, wählt Ripberger als schlüssigen Ausgangspunkt seiner Inszenierung. Und wagt sich ganz in diesem Sinne weit hinein in das Reich der Phantasie. Obwohl im langen Titel des Abends „1968: Geschichte kann man schon machen, aber so wie jetzt ist’s halt scheiße“ eigentlich der Begriff „Geschichte“ vorkommt. Und obwohl es erst einmal sehr spröde zugeht.
Einstieg mit politischer Theorie
In schwarzen Alltagskleidern mit weißen Lifestyle-Schuhen sitzen fünf Theoriejunkies auf der fast leeren Bühne, rauchen Zigaretten und Joints und verlautbaren virtuos ein Mashup aus Reden, Flugblättern, Zeitungsartikeln und Songs aus der Zeit um 68. Sie sind ebenso Verkörperungen sogenannter 68er wie Vertreter heutiger Jugend, reden aufbrausend, wütend, meist chorisch von der Befreiung des Menschen aus Abhängigkeiten, von Abfallbergen und nuklearer Bedrohung, von Gleichberechtigung und von der Welt des Konsums. Positionen von damals, die heutiger nicht sein könnten und unter die man sofort seine Unterschrift setzen möchte. Würden die Spieler nicht immer wieder unterbrechen, würden sie nicht immer wieder innehalten, so dass markante Sekunden der Stille entstehen. Und würden sie das Gesagte nicht immer wieder als Theaterprobe entlarven und eben dieses Theater in Frage stellen.
Von der Bühne auf die Straße
Denn Gesellschaft im Geist der 1968er zu kritisieren kommt – wie schon 68 – auch an diesem klug gebauten Abend nicht daran vorbei, die Methoden der Kritik selbst zu befragen. Was die Schauspieler in Augsburg kurzerhand von der Bühne auf die Straße treibt, mit Megaphon und vielen Träumen, die sie lautstark in die Nacht verkünden. Aber nur, um im zweiten Teil des Abends wieder ins Theater zurückzukehren. In das Theater als Ort der Utopie:
Theater als Ort der Utopie
Fröhlich-artifizielle Cyborg-Menschen sind sie jetzt, die 5 Darsteller. Geistern durch das satte Grün eines kultiviert-artifiziellen Dschungels, eines Reiches voller gewalt- und hierarchiefreien Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Technik. Eine Welt der Zukunft, theoriegesättigt erläutert von der freundlichen Stimme „Gaias“ aus dem Off. So bildlich karg die Aufführung begonnen hat, so sinnlich-verspielt endet sie. Dem Mythos 68 gewinnen Ripberger und sein Ensemble damit weit mehr ab, als Life-Style-Momente. Die frappante Aktualität der politischen Positionen von damals ebenso, wie den Sprung in die theatral ausgestaltete Phantasie einer anderen, von 68 noch nicht visionierten Gesellschaft. Und doch fühlt man sich erinnert an Bilder von damals, wenn am Ende alle Spieler paradiesisch-nackt in einer Badewanne liegen. Denn die Kraft der Phantasie schafft ja auch dies: die Verbindung des Blicks zurück mit dem nach vorne. Und umgekehrt.