In der öffentlichen Debatte, in Politik und Medien werden gegenwärtig viele Untergangsszenarien gezeichnet. Der Diskurs ist nervös, der Ton verschärft sich, konstruktive Rhetorik und kreatives Denken haben es schwer. Aber woher speisen sich eigentlich die Ängste der Gegenwart? Und welche positiven Erzählungen könnte es geben? Unsere Serie "Hurra, wir denken noch! Keine Angst vor der Angst" erkundet das Feld zwischen Schrecken und Utopie.
Gute, alte Gegenstände, schreibt Ernst Bloch gegen Ende dieses Buches, nähmen wie in die Jahre gekommene Ölgemälde gern eine dunkle, bräunliche Tönung an – den sogenannten "Galerieton". Ob das auch für ein 100 Jahre altes philosophisches Werk gilt? Überwiegt der Galerieton oder kommt der "Geist der Utopie", dieses Debüt, in dem Bloch seine Formel vom "Dunkel des gelebten Augenblicks" erstmals prägte, unvermindert frisch, mithin hell und licht, ja "weitstrahlsinnig" daher?
Der kurze Sommer der Utopie
"Weitstrahlsinnig" ist ein Wort, das Goethe geprägt hat, der vielbelesene Bloch zitiert es. Unverkennbar der Wille des Autors, "dass die deutschen Bücher endlich leben, Taten werden, dass, wie Hölderlin vorhersagte, der Blitz aus ihrem Gewölk bricht". Dieser Sommer 1918, die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs donnern noch, ist der kurze Sommer der Utopie. Der Utopie, dass bald mehr als nur einige "wenige Männer der Arbeit in Deutschland" aufwachen und ihnen "der ungeheure Betrug des kapitalistischen Weltkriegs mit einem Schlag vor die entblödeten Augen tritt". Dem Autor Bloch, der in diesem Sommer beim Verlag Duncker & Humblot den "Geist der Utopie" veröffentlicht, ist "morgendlich zumute", und obgleich "der Mensch im Matten liegt", "gottleer“, wie er diagnostiziert, "zuckt und schwält es im Inneren, der radikal demokratische Pulsschlag des ganzen Erdkörpers teilt sich auch dem Land der Untertanen mit". So beschwört man Aufbruch. So hofft man, "alle noch unbürgerlichen, noch nicht zu Haustieren gewordenen Herzen, die wilden, unverschnittenen Hengstherzen der Männer" für den Wandel zu gewinnen.
Wortmagier und George-Fan
Ein Wortmagier war er von Anfang an, dieser Ernst Bloch, kein Wunder, dass er einem anderen, dem "gewaltigen Lyriker" Stefan George in diesem Buch Reverenz erweist. Bisweilen gehen Bloch in seinem rhetorischen Furor die Gäule durch: etwa, wenn er schreibt: "So geht es hinaus, zum Vergewaltigen des Lebens, damit es Leben sei". Man stellt sich Bloch auf dem Monte Verità vor, wie er revolutionär gestimmt, davon träumt, der "an sich bösen" Macht "machtgemäß entgegenzutreten, als kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand, wo sie nicht anders vernichtet werden kann". Kant und Kierkegaard sind seine Hausheiligen, der Däne gar verdient es seiner Meinung nach als "echter neuer Kirchenvater verehrt und studiert [zu] werden". Von den Philosophen seiner Zeit aber, "die gegenwärtig auf den öffentlichen Stühlen das Denken lehren", so Bloch, kann man "nichts oder fast nichts ... lernen". Da bringt sich einer mit seinen "Stirnmuskeln" in Stellung und plädiert mitreißend für "Füllesteigerung der Augenwelt, Ohrenwelt, Seelenwelt". Der Poet im Philosophen weiß: "Man kann einen Fluss nicht einmal denken, ohne die Mündung mit zu meinen." Das sind Sätze von unvermindert hoher Suggestivkraft, auch deshalb, weil Bloch den Stabreim nutzte wie sonst nur Richard Wagner, um dessen Musik es auch geht: hier die "weltenwendende, willenswendende Kraft", da der "Sonnenriß des Seinsollenden", "das Umdenkenwollen der ganzen Welt".
Gegen die Rede von der Alternativlosigkeit
Denn diese Welt ist nicht so "unalternativisch", also alternativlos wie viele behaupten: "Es will um uns anders werden." Manchmal glaubt man bei der Relektüre dieses Klassikers fast unsere Zeit beschrieben zu sehen: "So ist es der bleichste Mißwachs, der, wenn nicht regiert, so doch den ressentimenterfüllten Durchschnitt bildet." Und auch wenn Ernst Bloch noch nichts ahnen konnte von den Folgen der sozialen Medien, die uns zur "Herdendummheit" der Selbstdarstellung verleiten, man liest mit Staunen seinen Befund, man lebe "selbstisch abgetrennt", betreibe "üble Selbsterwärmung durch Eitelkeit". "Man will nichts als sich unabgelenkt sehen." – Es dürfte heute viele ermüdete Mobiltelefonisten geben, die das sofort unterschreiben.
Intellektuelles Ideal des "Geisteszigeuners"
Als Appell wirkt und funktioniert der "Geist der Utopie" also noch heute. "Wir werden doch nicht nur geboren, um hinzunehmen oder aufzuschreiben, was war und wie es war, als wir noch nicht waren, sondern alles wartet auf uns, die Dinge suchen ihren Dichter", heißt es an einer Stelle. Das gilt noch heute. Dass Ernst Bloch sehr wohl bewusst war, dabei selber in seiner "halb heroischen" Pose eine komische Figur abzugeben, lehrt einen sein kurzes Kapitel über Don Quixote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Aber die Gefahr, sich lächerlich zu machen, muss man eingehen, wenn man hinauswill aus der "Hölle der Gemütlichkeit". "In der Hölle der Gemütlichkeit" heißt eine Erzählung des Schweizer Schriftstellers Carl Spitteler, der 1919 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekommen sollte. Ernst Bloch borgt sich aus Spittelers Erzählung einen schönen Begriff: "Geisteszigeuner". Man bräuchte auch heute viele solcher anregender Geisteszigeuner und intellektueller Vaganten.
Ernst Bloch: Geist der Utopie. Erste Fassung. Suhrkamp Verlag 2018. 438 Seiten.