Die Welt brennt - und beim Einzelnen hinterlassen diese Brandherde oft mehr als Brandblasen. So jedenfalls lassen sich jüngste Umfrageergebnisse interpretieren:
Beispielsweise war im September 2023 - also noch vor dem Krieg in Israel und Gaza, zu einer Zeit, als Corona und die damit verbundenen Maßnahmen längst vorbei waren, die Inflation langsam zurückging und in Sachen Ukraine-Krieg nach eineinhalb Jahren eine Art bitterer Gewöhnungseffekt eingesetzt hatte - jeder und jede zweite in Bayern laut BR-BayernTrend eher beunruhigt. Einer Forsa-Umfrage zufolge von Anfang Oktober - also ebenfalls vor Bayerns Landtagswahl und dem Krieg in Nahost - gingen sogar 71 Prozent der Bundesbürger davon aus, dass es ihrem Land in Zukunft schlechter gehen wird als heute.
Kriege, Krisen, Inflation, Angst, Unsicherheit - dass die allgemeine gesellschaftliche Stimmung den Menschen aufs Gemüt schlägt, zeigen auch die Behandlungsdaten der Krankenkassen. Angsterkrankungen und Depressionen nehmen zu - und dieser Effekt ist, wie Prof. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor und Chefarzt im Fachzentrum für Psychosomatik und Psychotherapie in der Schön Klinik Roseneck im BR-Interview sagt, nicht allein damit zu erklären, dass psychische Erkrankungen besser diagnostiziert werden.
Wie man nicht nur überlebt, sondern gut durch Krisen kommt
Was also tun, um diese Zeit nicht nur zu überleben, sondern um sie seelisch möglichst unbeschadet zu überstehen? Für Fachleute wie den Psychoanalytiker und Chefarzt der Heiligenfeld-Kliniken in Bad Kissingen, Hans-Peter Selmaier, geht es dabei zunächst um zwei Aspekte - sich einerseits schützen und andererseits stärken: Er empfiehlt, den Medienkonsum einzuschränken. Sich morgens und abends auf Nachrichtenportalen zu informieren, reiche seiner Meinung nach. Außerdem rät er, möglichst viel Normalität und Alltag zu leben. Denn - so banal es klingen mag - Routine schützt, damit - so formuliert es Selmaier - "nicht das ganze Leben aus den Fugen" gerate.
Auf Grundbedürfnisse achten, Routinen einhalten
Ausreichend Schlaf, geregelte Mahlzeiten, Sport, körperliche Nähe, Kontakt zu Freunden und Familie - all das, was Grundbedürfnisse stillt, stärkt dem Experten zufolge auch in Krisenzeiten. Darüber hinaus helfe auch alles, was Ressourcen aktiviere, ob Zeit in der Natur oder Meditation. In Podcasts und Frauenzeitschriften ist dann gerne von der sogenannten Selfcare die Rede, der Sorge für sich selbst, um eben gut zu sich zu sein.
Das aber, gibt Martin Schneider zu bedenken, der sich als Professor für Sozialethik an der Katholischen Universität Eichstätt mit Resilienz beschäftigt, setze ein Mindestmaß an Stabilität voraus. Jemandem, der sich in einer akuten oder existenziellen Krise befindet - weil er beispielsweise aufgrund explodierender Preise Sorge hat, die nächste Monatsmiete nicht zahlen zu können, mag die Empfehlung, im Sinne der Selfcare ein warmes Bad zu nehmen, im Wald spazieren zu gehen oder schöne Musik zu hören, wie Hohn klingen.
Positiv zu denken, sei wichtig, sagt der Resilienzforscher Schneider. Es brauche Auszeiten, vielleicht auch den Raum für Spiritualität, um wieder Kraft zu schöpfen. "Aber in Bezug auf, wie wir Krisen bewältigen, wird damit oft auch der Weg bereitet dafür, dass wir in diesem ganzen Positivdenken den negativen Indizien und Trends ausweichen."
Resilienzforscher: Nicht mit Selfcare von den Tatsachen ablenken
Denn, davon ist Schneider überzeugt: So wie es einmal war, wird es nicht mehr. Jeder Einzelne, aber auch ganze Gesellschaften müssten lernen, sich anzupassen, an immer neue Krisen und damit verbundene Veränderungen. Ein warmes Wannenbad ist in diesem Sinn dann vielleicht nur ein Pflaster, das die Brandblase zwar verdeckt, das aber nicht schützt und wappnet für neue Verwundungen.
Um stabil zu bleiben, braucht es Schneider zufolge genaues Hinschauen und eben die Akzeptanz, dass sich die Welt verändert, "sich der Realität so zu stellen, wie sie ist". Dass sich zu Beginn der Coronazeit viele an Waldspaziergängen erfreut hätten, habe vernachlässigt, dass das eben nur für einen privilegierten Teil der Gesellschaft überhaupt möglich war.
Politik und gesellschaftlich Verantwortliche müssten das auf dem Schirm haben und entsprechend Sorge tragen, dass in Krisenzeiten niemand zurückgelassen werde, sondern dass Menschen befähigt würden, sich selbst als wirksam, als tätig und nicht als ohnmächtig zu erleben. Auch aus diesem Grund empfehlen Therapeuten gerne alles, was Menschen ins Tun bringt: Malen und Zeichnen, Musik machen, Sport treiben, sich ehrenamtlich für andere einzusetzen.
Selbstwirksamkeit als Schlüssel zur Krisenbewältigung
Selbstwirksamkeit nämlich gilt in Expertenkreisen als einer der Hauptschlüssel zur Bewältigung von Herausforderungen und Krisen. Nur dann komme man aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus, man sei dann nicht mehr Opfer von Veränderungen, sondern könne etwas in die Hand nehmen, so Schneider.
Ob es nun die selbstgenähten Masken zu Beginn der Pandemie waren oder die Hilfsbereitschaft am Anfang des Ukraine-Krieges – bei all diesem Engagement schwingt auch immer das Gefühl der Selbstwirksamkeit mit. Allerdings, dem stimmen beide Gesprächspartner zu: Um ins Handeln kommen, braucht es ein Mindestmaß an Stabilität und Sicherheit. Wer nicht weiß, wie er seine Familie durchbringen soll, dem weder Yoga noch ehrenamtliches Engagement helfen. Hier sei die Gesamtgesellschaft gefordert, dass niemand komplett durchs Raster falle.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Newsletter abonnieren
Sie interessieren sich für Themen aus dem Bereich Glaube, Spiritualität, Religion, Kirche oder ethische Fragen? Dann abonnieren Sie hier den Newsletter der Fachredaktion Religion und Orientierung.