Der Ansatz des 36-jährigen französischen Soziologen Geoffroy de Lagasnerie klingt verführerisch. Er stellt in seinem Buch "Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie" das System der Strafjustiz auf den Prüfstand. Lagasnerie will nicht nur die Praxis des Strafens vor Gericht aus einer ungewohnten, übergeordneten Perspektive hinterfragen, er will auch seine standardisierte Alltäglichkeit als systemstabilisierend entlarven. Mehr noch - er will sogar den repressiven Charakter der Strafrechtsordnung enthüllen. Dekonstruktion ist hier das Wort, das französische Intellektuelle für diese Art von Unterfangen gern gebrauchen. Die Problematik des Buches liegt darin, dass der Autor dabei viele Fragen aufwirft, die er unbeantwortet lässt.
Die Macht des Staates zeigt sich im Strafrecht
Wie schon eine Reihe französischer Intellektueller vor ihm – Foucault, Derrida, Bourdieu – schreibt sich der junge Soziologieprofessor aus Cergy-Pontoise in einen Diskurs ein, der sich kritisch auseinander setzt mit der Macht des Staates, die unmittelbar spürbar wird in seinem Recht, Menschen zu bestrafen.
"Jede Rechtsauslegung fügt den Menschen, auf die sie sich bezieht, Leiden zu, sei es, indem sie sie einsperrt, indem sie ihnen ihre Güter wegnimmt oder indem sie sie tötet." Geoffroy de Lagasnerie
Viel Ritual, wenig Legitimierung
Ausgangspunkt von Lagasneries Analyse sind eigene Recherchen. Über mehrere Jahre beobachtete der französische Soziologe Verhandlungen in einem Pariser Gericht. Er stellte dabei fest, dass eine Vielzahl der Angeklagten aus schlechten Verhältnissen kommen, sie haben einen Migrationshintergrund und oft kaum Perspektiven im Leben. Die Rechtsprechung lässt aber diese soziale Komponente der Straftaten häufig völlig außer Acht. Gestraft wird vielmehr nach einem unumstößlichen Ritual, über dessen Zustandekommen sich die Beteiligten eines Prozesses kaum Gedanken machen. Lagasnerie untersucht dieses System des Strafens genauer. Wie kommen die Richter zu ihrem Strafmaß? Warum wird ein korsischer Nationalist mit 12 Jahren Gefängnis bestraft, obwohl sein Sprengsatz nicht zündete und er keinen Schaden anrichtete? Wie begründet sich das Strafmaß für einen Obdachlosen, der einen anderen im Streit erschlagen hat? Wer bestimmt, was hier Recht und gerecht ist?
Geoffroy de Lagasnerie: "Verurteilen". Der strafende Staat und die Soziologie. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, 271 Seiten, 26 Euro