Autor Max Czollek
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Autor Max Czollek

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Versöhnungstheater? Max Czollek über deutsche Erinnerungskultur

Kritiker der Mehrheitsgesellschaft: Mit Streitschriften wie "Desintegriert Euch!" hat sich Max Czollek einen Namen gemacht. In seinem neuen Buch widmet er sich der deutschen Erinnerungskultur. Für den Berliner Autor ein bloßes "Versöhnungstheater".

Barbara Knopf: Am vergangenen Freitag, dem internationalen Auschwitz-Gedenktag, hat Olaf Scholz getwittert: "Damit unser "Nie Wieder!" auch in Zukunft Bestand hat, erinnern wir am Holocaust -Gedenktag an unsere historische Verantwortung." Ist das so ein Satz, der zu dem gehört, was Sie "Versöhnungstheater" nennen im Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus?

Max Czollek: Ich glaube, es ist wichtig, immer das Umfeld solcher Sätze zu betrachten. Sagen kann man viel, aber was passiert dann eigentlich? Ich glaube das führt uns direkt ins Herz des Versöhnungstheaters, also zu einer Form des Erinnerns, die zwar auf symbolischer Ebene wahnsinnig viel Aktivitäten entfaltet – so etwas wie Erinnerungstage, Gedenkbaum, Bauwerke, solche Geschichten; aber auf der Ebene realer Handlungen – so etwas wie Gerichtsprozesse oder auch der Versuch, Antisemitismus und Rassismus in deutschen Behörden zu bekämpfen – dann gar nicht so viel unternimmt.

Diese Gedenktage sind Ihnen also offenbar sehr suspekt – aber sie gehören ja auch in die verschiedenen Phasen eines sich wandelnden Aufarbeitungsprozesses. Aber das reicht Ihnen nicht?!

Naja, ich würde schon sagen, dass die deutsche Erinnerungskultur sehr effektiv ist. Aber eben nur, was einen bestimmten Zweck angeht. Wenn wir nochmal an den Anfang dieser zweiten Phase der deutschen Erinnerungskultur zurückgehen, die mit dem Kniefall von Willy Brandt eingesetzt hat, dann sehen wir, dass es zwar eine Intensivierung von Erinnerungs-Gesten gegeben hat, Bezeugungen von gutem Willen aber - und das war auch für mich überraschend bei der Recherche des Buches – keine Realität. 99 Prozent der Prozesse gegen Kriegsverbrecher, die direkt an der Shoah beteiligt waren, haben niemals stattgefunden. Auch nicht nach 1970. Wir haben es hier also mit einer Erinnerungskultur zu tun, die eine Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung erlaubt.

Das ist eine zentrale Pointe der deutschen Erinnerungskultur: dass man über die Erinnerung an die Shoah als sozusagen dunkelsten Teil der deutschen Gewaltgeschichte es möglich macht, auch wieder an die guten Teile der deutschen Geschichte zu erinnern. Da sagt man dann: Weil wir so gut an die Geschichte erinnert haben, dürfen wir auch wieder stolz sein auf Deutschland. Und das manifestiert sich dann in so Dingen wie dem Wiederaufbau des preußischen Berliner Stadtschlosses ...

... darin steckt Ihnen zu viel Nationalismus?

Oh, aber hallo! Es ist doch bemerkenswert, dass die Shoah hier zur Grundlage für die Legitimation eines einen neuen Nationalismus in Deutschland wird, würde ich sagen. Das mit dem Nationalismus können die Leute ja machen, wenn sie wollen, aber doch bitte mit der Schoah! Und das konnten wir gerade auch bei Friedrich Merz noch mal sehen, als er am 27. Januar in Neukölln in Berlin anlässlich einer Rede über die deutsche Erinnerungskultur ins Mikrofon gemurmelt hat, er sei deswegen richtig stolz auf Deutschland.

Können Sie diesen Zusammenhang zwischen der Shoah und dem wiedererstehenden Nationalismus noch mal etwas deutlicher machen?

Sehr gerne! Also, wenn wir uns anschauen, wie ab den 1990er-Jahren in Deutschland die Erinnerungskultur verknüpft wird mit der Rhetorik eines neuen, eines wiedergefundenen Nationalismus, dann finden wir an verschiedenen Stellen sehr eigentümliche Verbindungen. Nehmen wir die WM 2006 und die Rückkehr der Deutschlandfahnen in den öffentlichen Raum. Damals haben die Leute häufig gesagt: Endlich dürfen wir wieder! Oder denken wir an die Einrichtung eines Heimatministeriums anlässlich der Bundestagswahl 2017 – auch da wurde gesagt, Deutschland hat so gut erinnert, darum darf Deutschland stolz sein auf seine Heimat.

Oder gehen wir in die Gegenwart und gucken uns die Rede zur "Zeitenwende" von Scholz im Jahr 2022 an. Da hielt Lars Klingbeil, der SPD-Generalsekretär, eine Rede, in der er nochmal ausführen wollte, was dieser Begriff eigentlich gemeint hatte, und sagte: Also worum es hier geht, ist, auch nach 80 Jahren der Zurückhaltung, außenpolitisch wieder einen Führungsanspruch zu behaupten. Das ist alles völlig schief. Entscheidend ist, dass hier die Erinnerungskultur selber zum Ausgangspunkt wird, den Stolz auf Deutschland, die Wiederaufrüstung der Bundeswehr, die Rückkehr der Fahnen in den öffentlichen Raum zu legitimieren.

Es ist auch gefährlich, weil die deutsche Gesellschaft, die deutsche Politik ein relativ gutes Selbstbild von sich vermitteln, das – so sagen Sie – nicht der Realität entspricht. Damit wird immer wieder ausgeblendet woher die rechte Gewalt hierzulande kommt. Stattdessen ist man immer wieder überrascht, wenn derartiges auftaucht ...

Ja, ich nenne diese Rhetorik der Überraschung auch den "Schwarz-Rot Goldfisch in Deutschland" – also das permanente Vergessen, dass man hier eigentlich in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft lebt. Und dieses Vergessen hat mehr mit der deutschen Erinnerungskultur zu tun, als man auf den ersten Blick vielleicht glauben mag. Es hat nämlich mit der Erzählung zu tun, mit dem Narrativ, das durch diese Erinnerungspraxis erzeugt wird, nämlich, dass wir ganz anders geworden sind, dass wir mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun haben.

Wenn man das glaubt, wenn man das verinnerlicht hat, dann kann man tatsächlich rechte Gewalt nur noch als Überraschung und Ausnahme verstehen. Dann werden rechtsradikale Spender für das Berliner Stadtschloss zu einer Ausnahme; dann wird auch die Judensau an den verschiedenen Kirchen in Deutschland zu einer Ausnahme. Und dann wird der Antisemitismus der anderen zur Regel.

Wenn eine Gesellschaft so ist, wie Sie die deutsche beschreiben, dass sie also auch vieles ausblendet – was übersieht die heutige Gesellschaft, was passt nicht rein in dieses Raster?

Na, das konnten wir uns in den letzten Monaten ja ganz gut anschauen mit der Reichsbürger-Razzia, bei der Leute aus der Bundeswehr, aus der Polizei, aus den Gerichten gefangengenommen wurden, weil sie eine Verschwörung gegen den deutschen Staat geplant hatten. Das war Deutschland ungefähr zweieinhalb Tage eine belustigte Debatte wert. Und dann hatten wir zu Neujahr eine Situation in Berlin – wie immer an Neujahr in Berlin. Keine gute Situation, aber so ist es in Berlin immer gewesen. Und darüber führen wir dann neun Tage lang eine Debatte, ob Migranten die deutsche Kultur bedrohen und ob sie nicht eigentlich als kleine Paschas nach Hause geschickt werden sollten.

Das ist die Gefahrenwahrnehmung, die diese Gesellschaft produziert. Geteilt übrigens von fast allen Medien, die dieser Diskussion eine Plattform geboten haben. Und ich glaube, das ist gefährlich, weil wir tatsächlich nicht verstehen, und zwar aus unserem Selbstbild heraus nicht mehr verstehen, dass diese Gesellschaft durch die exzessiven Homogenisierungen, historisch und gegenwärtig, viel stärker bedroht ist, als durch die sogenannte Migration oder die Pluralität der Gesellschaft.

Dennoch gibt es doch viele Kräfte in der Gesellschaft, die sehr wohl sehen, was Sie sagen – dass es ein Versagen in Sachen Aufarbeitung gibt – und die sich engagieren, damit da etwas voran geht!

Gut, dass Sie das auch noch mal unterstreichen! Dass es auf Ebene der Zivilgesellschaft schon immer eine Art kritische Begleitung gab, darauf komme ich auch gegen Ende meines Buches zu sprechen. Gerade auch von Seiten derer, die normalerweise als Problem für die Gesellschaft bezeichnet werden: migrantisierte Menschen, Migrantinnen, schwarze deutsche Juden, Jüdinnen – die haben ganz maßgeblich an der Entwicklung einer Gegenposition zur Kontinuität rechten Denkens gearbeitet.

Weil, man muss schon sagen: Natürlich ist es leicht, die Geschichte von der Wiedergutwerdung Deutschlands zu erzählen, wenn man selber kein Kontakt hat mit der Kontinuität der Gewalt. Und das ist für nicht-jüdische, weiße Deutsche im weitesten Sinne der Fall, wenn man nicht gerade besonders links ist. Das heißt: Die Gewalt, die erleben die anderen. Und solange man selber die Gewalt nicht erlebt, kann man, wie Juli Zeh kürzlich in einem Interview sagen: Die 90er-Jahre, das war doch eine ganz ruhige Zeit! Für andere sah es völlig anders aus.

"Versöhnungstheater", das neue Buch von Max Czollek, ist im Hanser Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

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