Die Hurra-Patrioten schäumen vor Wut, die Bewohner der russischen Region um Belgorod nahe der Grenze zur Ukraine bibbern vor Angst: Offenbar ist es der ukrainischen Armee gelungen, bis auf russisches Gebiet vorzurücken, so dass sie mit ihrer Artillerie jederzeit die Provinzstadt mit in Friedenszeiten rund 360.000 Einwohnern erreichen kann. "Die Streitkräfte der Ukraine beschießen Siedlungen in der Region Belgorod – weil sie es können", so ein von Untergangsstimmung geprägter Artikel zur Lage ausgerechnet in der "Prawda", die den russischen Kommunisten nahesteht.
"Russische Gesellschaft zittert ziemlich"
Dort werden mehrere aus Sicht des Kreml militärische Hiobsbotschaften verkündet, die alle in dem Satz gipfeln: "Sowohl die Wut der Patrioten als auch die Angst der Einwohner sprechen in diesem Fall für eines: Die Russen unterstützten die Operation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine, erwiesen sich aber mental als unvorbereitet für die Folgen."
Experten des American Institute for the Study of War haben inzwischen bestätigt, dass die russischen Truppen den Kampf um die zweitgrößte Stadt der Ukraine, Charkiw, aufgegeben haben. Demnach hätten sich Putins Soldaten zurückgezogen - und das, obwohl die Metropole nur rund 25 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt.
Charkiw: Seit fünf Tagen kein Beschuss mehr
Der Bürgermeister der Stadt, Igor Terekhov, sagte der BBC, die Russen hätten Charkiw zeitweise ständig beschossen, jetzt jedoch habe es seit fünf Tagen keinen Beschuss mehr gegeben: "Jetzt ist es ruhig in Charkiw, und die Menschen kehren allmählich in die Stadt zurück. Wir versorgen alle Bewohner mit Wasser, Gas und Strom. Leider wurden jedoch viele Wohngebäude zerstört oder beschädigt. In Zukunft werden wir also einen gewaltigen Umbau vornehmen müssen."
Natürlich gebe die russische Armee auf die ukrainischen Erfolge "eine Antwort" mit Kampfflugzeugen und Artillerie, droht die "Prawda", doch das scheint momentan nicht zur Beruhigung beizutragen: "Den Reaktionen in sozialen Netzwerken auf die neuesten Nachrichten nach zu urteilen, zittert die russische Gesellschaft ziemlich, und es ist nicht klar, ob mehr vor Wut oder aus Angst." Dass so ein Beitrag über die psychische Verfasstheit der Russen überhaupt erscheinen durfte, ist bemerkenswert.
"Inkompetenz des russischen Kommandos"
Die "Prawda" zitiert den russischen Militärkommandanten Yuri Kotenok, der bestätigte, was westliche und ukrainische Medien schon seit Tagen melden: Beim Versuch, den Fluss Seversky Donets zu überqueren, wurde eine "taktische Gruppe eines russischen Bataillons" aufgerieben: "Die durch gepanzerte Fahrzeuge verursachten Verluste entsprechen fast einer vollständigen Einheit von Schützenpanzern, und die ging nicht im Kampf mit überlegenen feindlichen Streitkräften verloren, wie das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation gerne berichtet, sondern ausschließlich aufgrund der Inkompetenz des russischen Kommandos, so meine persönliche Meinung." Angeblich waren 58 Fahrzeuge nach dem Vorfall Schrott.
Für russische Leser sind das ungeheuerliche Worte, ähnlich wie ein Zitat aus dem Mund eines Beraters des ukrainischen Innenministers, Viktor Andrusiv: "Eine Nachricht an Belgorod, sich vorzubereiten. Denn von unserer Grenze aus können unsere Mehrfachraketensysteme die Stadt bereits beschießen. Deshalb denke ich, dass sie dort in naher Zukunft herausfinden werden, was es bedeutet, in den Keller zu rennen, was es bedeutet, wenn ihre Häuser brennen und so weiter." Andrusiv kündigte übrigens auch an, die Ukraine werde "definitiv" die wichtige russische Brücke zur Halbinsel Krim zerstören, allerdings nicht in "naher Zukunft".
"Woher kommt die kalte Siegeszuversicht?"
Die "Prawda" nennt das alles die "bittere, unangenehme Wahrheit". Die russische Armee verhalte sich immer noch "gentlemanlike", während die ukrainische die "elementarsten Prinzipien der Kriegsführung" und "einfachste Menschlichkeit" vermissen lasse: "Für sie ist jedes Mittel recht, wenn es den Russen schadet." Als ob letzteres nicht in jedem Krieg trauriger Alltag ist.
Es gelte Fehler aus einem "eventuellen militärischen Versagen" aufzuarbeiten: "Woher kommt sie, die kalte Siegeszuversicht? Das Militär hat sie, vielleicht auch Menschen, die sich mit Kriegskunst beschäftigen, wo der psychologischen Vorbereitung und der Ausbildung zu einer ruhigen Todesbereitschaft erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die gewöhnliche Mehrheit, die zwei relativ ruhige Jahrzehnte hinter sich hat, hatte nicht mal eine militärische Grundausbildung in der Schule. Woher kommt also die Erwartung: Wenn morgen Krieg ist, wenn wir morgen einen Feldzug beginnen, seid heute bereit dafür?"
BBC: Anschläge auf Rekrutierungsbüros
Nach wie vor darf das Geschehen in der Ukraine in Russland nicht "Krieg" genannt werden, die "Prawda" nennt es einen "nicht erklärten Krieg", offiziell ist immer noch von "Spezialoperation" die Rede. Der russische Dienst der BBC berichtet jedoch bereits von einer "verdeckten Mobilisierung". Offenbar gehe es Putins Armee "nicht gut", sie brauche dringend mehr Personal. In den letzten Wochen hätten die Militärregistrierungs- und Rekrutierungsämter Männer mit Vorladungen und der Aufforderung zur "militärischen Registrierung" schier "bombardiert".
Die Werbung für Kurzzeitverträge werde "immer aufdringlicher". Einige Arbeitgeber suchten Spezialisten für die Vorbereitung auf "Kriegseinsätze", andere bemühten sich bereits, wertvolle Mitarbeiter zu "blocken", um sie vor dem Einsatz in den Schützengräben zu bewahren, wenn sich eine "echte" Mobilisierung abzeichne.
Säuberungswelle in der russischen Generalität?
In einem Rekrutierungsbüro in Omsk wurden Molotow-Cocktails in ein Rekrutierungsbüro geworfen. Augenzeugen berichteten von einem beißenden Kerosin-Gestank vor dem Gebäude. Solche Anschläge hat es nach Recherchen der BBC auch in mehreren anderen russischen Städten gegeben.
Die Gerüchteküche brodelt wegen der angespannten militärischen Lage: Laut unbestätigten ukrainischen Quellen hat Putin seinen obersten Heerführer, General Waleri Gerassimow (66) und einige weitere hochrangige Offiziere, die für Fehlschläge verantwortlich gemacht werden, kaltgestellt. Sogar von einer angeblichen "Säuberungswelle" größeren Ausmaßes ist die Rede, was für Auflösungserscheinungen in der russischen Führung sprechen würde.
"Frontlinie bewegt sich langsam"
Die Kommentare in der Presse werden jedenfalls bang und "bänger", die russischen Beiträge, die sich über die maximale Motivation und Kampfkraft der Ukrainer wundern, werden zahlreicher: "Die ukrainische Armee zeigt eine beeindruckende Widerstandsfähigkeit und eine gute NATO-Ausbildung, was sie in Kombination mit westlicher Unterstützung (Ausbildung, Berater, Kommunikation, Geheimdienste, Waffenlieferungen usw.) zu einem ernsthaften Gegner macht. Infolgedessen bewegt sich die Frontlinie langsam", heißt es in der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Auch das wirkt wie eine Art "Bibbern".
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