Darstellerin Salomé Dewaels trägt ein Ballkleid mit weitem Ausschnitt und korrigiert den Sitz ihrer roten Strümpfe. Ein Mann beobachtet sie dabei.
Bildrechte: Roger Arpajou/CURIOSA FILMS

Salomé Dewaels im Kinofilm "Verlorene Illusionen" nach einer Vorlage von Honoré de Balzac

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"Verlorene Illusionen": Fake News im 19. Jahrhundert

Kinorekorde in Frankreich, sieben Auszeichnungen bei den Césars: Xavier Giannolis Verfilmung des Balzac-Klassikers "Verlorene Illusionen" ist ein Kostümfilm, der es in sich hat. Es geht um einen Journalisten im Paris des 19. Jahrhunderts.

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Ein Mann liegt im hohen Gras auf einer Wiese und hält sein Notizbuch gegen die Sonne. Dichter möchte er werden. Auf einer Seite hat er drei kleine Löcher ausgeschnitten, zwei in der Form eines Halbmondes, einmal zu- und einmal abnehmend, ein weiteres als fünfzackigen Stern. Ein verträumter Moment.

Die Lichtstrahlen, die durch die Aussparungen dringen, lässt Lucien über sein Gesicht wandern, ein poetisches Dreigestirn. Ein solches bildet er bald in Paris, wohin er geht, in einem ganz anderen Zusammenhang – gemeinsam mit dem Redakteur Etienne und dem Verleger Dauriat.

Sehen und gesehen werden

Im Gewimmel der narzisstischen Hauptstadt sind plötzlich ganz andere Dinge wichtig als Poesie und naturnahe Entrückung. Nun gilt es, das gnadenlose Gesellschaftsspiel des Sehen-und-Gesehen-Werdens zu beherrschen, aufzufallen und Karriere zu machen. Umso mehr für einen anfangs verlachten Provinzling.

Lucien lebt, nachdem ihn seine adelige Mäzenin hat fallen lassen, von der Hand in den Mund. Er beginnt zu kellnern – und trifft auf den energiegeladenen Zeitungsverleger Etienne, der das Talent des verhinderten Schriftstellers erkennt und ihn für den Journalismus gewinnt.

Edelfeder und Emporkömmling

Lucien wird zum Star einer lustvoll gehässigen Presselandschaft – schreibt böse Verrisse über die aufstrebende Szene der Pariser Boulevardtheater, attackiert die aristokratischen Salons und träumt gleichzeitig davon, in diese eingeladen zu werden. Der champagnerselige Emporkömmling verkauft seine Seele dem Teufel. So wurde er zu einer der prägnantesten Figuren im Werk von Honoré de Balzac, der viele biographische Parallelen in diesen Lucien de Rubempré mit einfließen ließ.

Regisseur Xavier Giannoli lässt den ersten Teil von Balzacs "Verlorene Illusionen" schnell hinter sich und konzentriert sich auf den zweiten Band des Romans, der den Untertitel trägt "Ein großer Mann aus der Provinz in Paris": Visuell aufwändig und mit einer elegant schwebenden Kamera wirft er sich hinein ins Gewimmel, zeigt sowohl den Dreck auf den Straßen als auch die Dekadenz der Salons.

Porträt einer ruchlosen Gesellschaft

Das Bild einer ruchlosen und verrotteten Gesellschaft entsteht, einer Zeit, die geprägt ist von hitziger Modernisierung und schonungslosem Profitdenken. Das wirkt nie kostümhaft plüschig, sondern besitzt als Historiendrama einen erstaunlichen treibenden Rhythmus und eine schlagende Modernität: Giannoli hält uns den Spiegel vor, entlarvt korrupte Seilschaften, zeigt die Mechanismen der Presse, um größte Aufmerksamkeit zu erreichen, und erzählt von Käuflichkeit um der eigenen Bedeutung willen.

Honoré de Balzac hat in "Verlorene Illusionen", erschienen 1843, erforscht, was aus der französischen Revolution geworden ist – in Sachen bürgerliche Werte, Gleichberechtigung oder Brüderlichkeit. Ziemlich niederschmetternd ist das Bild, das er von Frankreich zeichnet – die Restauration, die Wiederherstellung der alten politischen Zustände, spaltet das Volk. Die Royalisten bestimmen nach wie vor das Schicksal des Landes, der Tanz auf dem Vulkan endet für Lucien abrupt.

Phänomenal, ernüchternd, rauschhaft

Die Illusionen, die er verloren hat, sind aber ein gutes Kapital für die Selbsterforschungen des künftigen Schriftstellers. Die Idee der Reinigung und eines Neuanfangs stehen am Ende dieses phänomenalen Films, der so ernüchternd wie rauschhaft ist.