Der ukrainische Vize-Außenminister schaut sein Smartphone
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Andrij Melnyk

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"Verbale Artillerie": Andrij Melnyk verteidigt seine PR-Taktik

Erstaunlich offen äußert sich der frühere Botschafter der Ukraine in Deutschland und jetzige Vize-Außenminister über seinen umstrittenen Kommunikationsstil. Er versteht seine für einen Diplomaten ungewöhnlich polemischen Tweets als "Hilferuf".

Er ist mal wieder auf allen Kanälen präsent, was für einen Vize-Außenminister höchst bemerkenswert ist. Doch Andrij Melnyk (47), bis Oktober letzten Jahres Botschafter der Ukraine in Deutschland, genießt öffentliche Aufmerksamkeit augenscheinlich wie kaum ein anderer Diplomat und freut sich sogar über Kritik. So schrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter der Kommentarüberschrift "Lärm statt Debatte" über ihn, er habe die deutsche Russlandpolitik mit seinen Forderungen "von außen" stark beeinflusst: "Der frühere ukrainische Botschafter war darin ein Meister, er machte Deutschland einmal wegen fehlender Waffenlieferungen für viele Tote in seinem Land verantwortlich."

"Sie denken, das war´s"

Melnyk bedankte sich per Tweet für diesen von ihm als "Kompliment" bezeichneten Leitartikel und antwortete: "Ohne diesen Lärm hätte es in Deutschland nie eine Debatte über Waffenlieferungen gegeben." Gleichzeitig versuchte er, Bundeskanzler Olaf Scholz weiter unter Druck zu setzen. Die Deutschen lehnten sich "zu früh zurück", so der Diplomat in einem aktuellen Interview mit dem ukrainischen Portal NV: "Sie denken, na, das war's, es war eine schwierige Geburt, um es mal so auszudrücken, sie hat mehr als neun Monate gedauert, diese Panzer-Geburten haben fast ein Jahr gedauert, und jetzt stellt sich heraus, dass man ausatmen, entspannen und die Beine hochlegen kann, was anderes sollten wir nicht erwarten."

Das sei jedoch "falsch", so Melnyk, die Ukraine könne aus Deutschland "größere Mengen" Waffen erwarten: "Ich weiß, dass sie vorhanden sind." Per Tweet versicherte der Vize-Außenminister, er fordere von den Verbündeten nicht etwa "aus Jux und Tollerei" ständig mehr Waffen, sondern sei entschlossen, Debatten anzustoßen, auch, wenn er seine Ziele "nicht gleich morgen" erreiche und dafür bisweilen Hohn und Spott ausgesetzt sei.

"Christine Lambrecht war Totalausfall"

Die deutsche Ex-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht nannte Melnyk im Gespräch mit der Tageszeitung "Die Welt" einen "Totalausfall", was nicht gerade diplomatisch formuliert ist: "Jetzt hoffen wir, dass wir ganz zügig vorankommen. Bei der Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Panzerhaubitzen gibt es noch viel Luft nach oben. Es gibt kein Waffensystem, das die Ukraine nicht brauchen könnte." Die Deutschen dürften sich nicht auf ihren "Lorbeeren ausruhen".

In einem weiteren Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in der Ukraine erläuterte Melnyk jetzt ausführlich, warum er dermaßen präsent ist in den Medien: "Das ist ein erzwungener Schritt. Wir sind alle wohlerzogen, höflich, und niemand hat die klassische Diplomatie aufgegeben. Aber der Krieg kam in unser Land. Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ein Land, das zu den Top 5 der Waffenexporteure gehört. Die Deutschen exportierten im Jahr vor dem Krieg Waffen im Wert von neun Milliarden Euro. Dann sagen sie uns, dass sie 5.000 Helme liefern können und das nach langen Diskussionen."

"Es war ein Hilferuf"

Ob er seinen bisweilen polemischen Kommunikationsstil beibehalten werde, da sei er sich selbst "nicht sicher". Er bezeichnete seine Tweets als "Experiment, das mit Risiken behaftet war und ist". Dass er in Deutschland einige Menschen empöre, sei ihm völlig klar, aber wichtiger als darauf Rücksicht zu nehmen, seien die Ergebnisse: "In dieser Lage schien mir das Wagnis einer Offensive geringer zu sein."

Der Ex-Botschafter verglich sich mit einem Ertrinkenden, der nach dem Rettungsring sucht: "Ich bedauere und bereue, dass ich so schwere verbale Artillerie einsetzen musste, aber es war im Nachhinein die einzig mögliche Methode. Es geht nicht darum, dass sich irgendein Politiker dort angegriffen fühlen könnte, sondern dass die deutsche Gesellschaft versteht: Wenn die Ukrainer mit solchen Methoden vorgehen, dann ist die Situation dort ziemlich schlimm. Es war ein Hilferuf", so Melnyk.

"Sie nennen es Koordination"

In Friedenszeiten habe ein Botschafter gewöhnlich keinen Zugang zu Bundeskanzler Olaf Scholz. Die üblichen Amtsgeschäfte würden auf der Ebene der Staatssekretäre erledigt. Umso wichtiger seien seine Twitter-Nachrichten: "Ich wusste, dass jede Nachricht, die ich verschickte, von Scholz' Büroleiter innerhalb einer Sekunde gelesen werden würde. Das ist [Kanzleramtsminister] Wolfgang Schmidt. Ich weiß, dass es ihm nicht gefallen wird, dass er wahrscheinlich ein paar leise oder sogar laute Flüche ausstoßen würde, aber ich weiß auch, dass die Nachricht in Sekundenschnelle ankommt und innerhalb einer Stunde jemand sie kommentieren wird und es dann bereits eine Diskussion gibt."

Aktuell übrigens ist Melnyk nach eigenen Worten gar nicht mehr für Deutschland zuständig, sondern für Lateinamerika, die USA und Kanada. Aber auch in dieser Rolle will er Einfluss nehmen auf das politische Berlin, denn Deutschland orientiere sich oft an Verbündeten: "Sie nennen es Koordination. Das heißt, wir können diese Hebel sowohl über Lateinamerika als auch über die Vereinigten Staaten nutzen, um einige Prozesse in Europa zu befördern."

"Russland muss entnazifiziert werden"

Gefragt, wie er sich einen "Sieg" der Ukraine vorstelle, antwortete Melnyk: "Russland muss das durchmachen, was die Deutschen am 8. Mai 1945 durchgemacht haben. Nicht nur vollständige und bedingungslose Kapitulation ohne [vorherige] Verhandlungen, weil auch niemand mit Hitler verhandelt hat, obwohl er es in den letzten Monaten versucht hat. Aber was geschah danach? Deutschland wurde von den Alliierten besetzt und es gab einen Prozess der sogenannten Entnazifizierung, den die Russen bei uns durchführen wollen."

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