Am 20. November in Sotschi zu Ehren des Hl. Michael
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Prozession von russisch-orthodoxen Gläubigen

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"Unmöglich den Krieg zu gewinnen": Russen vermissen "Ideologie"

Der Kreml formuliert stets neue "Ziele" des Angriffskriegs auf die Ukraine, die Nationalisten bedauern lautstark, dass es an einer staatlichen Grundorientierung fehlt. Die Verfassung verbiete sie sogar: Das sei "falsch" und verhindere einen Sieg.

Fanatismus gibt es bei russischen Propagandisten mehr als genug - aber Ideologie? Eher wüste Beschimpfungen: Ex-Präsident Dmitri Medwedew will in der Ukraine "Kakerlaken" entdeckt haben und verkündete in seinem jüngsten Telegram-Post, die "Insekten" müssten "aufgeheitert" werden: "Kiew ist ausschließlich eine russische Stadt, in der die Menschen immer Russisch dachten und sprachen."

Gleichzeitig stellte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow allerdings klar, Moskau wolle mit dem Angriff auf die Ukraine ausdrücklich nicht die dortige Regierung stürzen, was die Verwirrung steigerte, denn andere Politiker hatten beteuert, eine "Normalisierung" der Beziehungen zu Kiew sei nur nach einem Machtwechsel möglich. Die "Ziele" würden erreicht, so Peskow, ohne näher zu definieren, welche das inzwischen sind.

"Kämpfen im Namen von was?!"

Bei Nationalisten, und nicht nur bei denen, gibt es inzwischen eine gewisse Ratlosigkeit, wofür Russland überhaupt noch kämpft: "Es ist unmöglich, einen Krieg für einen Staat zu gewinnen, dessen Verfassung schwarz auf weiß sagt: 'Jede Ideologie ist verboten.' Aus diesem Grund ist unser Land den falschen Weg gegangen und hat lediglich den Anschein einer Ideologie geschaffen, die auf einem Datum und nicht auf einem Ziel basiert: Dem Tag des Sieges [über den Nationalsozialismus am 9. Mai]."

Es gebe jedoch in der russischen Geschichte "viele glorreiche Daten", so ein populärer Blogger mit 300.000 Abonnenten, die allesamt nicht ausreichten: "Ideologie ist das Ziel, das ein Volk, eine Nation, ein Land anstrebt. Wir brauchen jetzt eine nationale Idee, die im grundlegenden Gesetz dieses Landes verankert ist. Damit diejenigen, die jetzt kämpfen, wissen, im Namen von was?!"

"Das ist einfach nicht genug"

Mit dieser Frage steht der Blogger nicht allein da, muss allerdings von Kollegen auch Widerspruch aushalten: "Es scheint, dass der Iran eine Ideologie hat. Der Einfluss des Klerus ist dort sehr stark. Das ist einfach nicht genug. Die Menschen gehen immer noch auf die Straße. Nicht weniger wichtig für die Stabilität des Landes ist die Wirtschaft. Die Menschen müssen zuversichtlich in die Zukunft blicken. Dazu braucht es eine starke Wirtschaft", so ein anderer "patriotischer" Kommentator mit einem leisen ironischen Unterton.

Für Spott aus den im Ausland erscheinenden russischsprachigen Medien ist sowieso gesorgt. Die kremlkritische Anthropologin Alexandra Archipowa sagte mit Blick auf die Gefühlsausbrüche von Dmitri Medwedew: "Uns alle interessiert, was die da rauchen. Aber im Allgemeinen erleben wir hier eine verzweifelte Suche nach einer Ideologie, die eine einzige Plattform für die Russen schafft und es ihnen ermöglicht, sich zu erklären, wozu das alles gut ist. Die Verteufelung der Ukraine und die bevorstehende "Entsatanisierung" ist praktisch der einzige Weg, alle zu vereinen." Daneben spiele ein "bunter Orientalismus" eine gewisse Rolle, mit denen die Wertvorstellungen fundamentalistischer Muslime aufgegriffen werden sollten. Dafür stehe der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow.

"Verschwörungstheorien sind neue Ideologie"

Ansonsten versuche die Kreml-Elite mangels einer geschlossenen und vor allem einheitlichen Weltanschauung die Bevölkerung mit "Verschwörungstheorien" bei Laune zu halten: "Zweifellos ist das ein gewisser Propagandamechanismus, der es Ihnen ermöglicht, Gemeinsamkeiten zu finden, die Menschen vereinen können. Am wichtigsten ist, wozu diese Verschwörungen dienen: Sie ermöglichen es Ihnen zu erklären, gegen wen wir eigentlich kämpfen. Putin sagt ständig, dass wir uns nicht im Krieg mit der Ukraine befinden, die Ukrainer seien ein brüderliches Volk, tatsächlich befinden wir uns im Krieg mit dem Westen, mit den Angelsachsen, die uns vergiften, unsere Kinder töten, sie mit Drogen locken, ihr Geschlecht verändern wollten und uns sogar mit allen möglichen Viren angreifen."

Putin sei überzeugt, einen "besonderen Weg" zu gehen und wolle die ganze Welt davon überzeugen, so Archipowa: "Es ist offensichtlich, dass er dabei sehr konsequent vorgeht. Glaubt sein Umfeld daran oder plappert nach, was gemäß dieser neuen Ideologie unentwegt wiederholt werden muss? Diese Verschwörungstheorien sind, ehrlich gesagt, schon eine neue Ideologie, sie sind nicht mehr etwas Randständiges, sondern eine absolut klare staatliche Erklärung für alles, was passiert. Es wird von Beamten nachgebetetet, weil 'es notwendig ist'." Im Übrigen sei es nicht ungewöhnlich, dass Menschen zwischen "Magie und Wissenschaft" hin- und herschwanken.

"Russland braucht keine neue Ideologie"

Auch die den Kommunisten nahestehende "Prawda" bemängelt ein Defizit an "Ideologie" und empfiehlt wenig verwunderlich den Sozialismus sowjetischer Prägung: "Ein Land ohne Ideologie kann nicht existieren. Wenn die Aufgabe darin besteht, ein Gebiet zu entnazifizieren, wäre es gut, zuerst zu verstehen, wer sind wir, wohin wir gehen, was wir wollen." Es gehe darum, den Ukrainern ihre "Wahnvorstellungen" zu nehmen, so die kommunistische Parlamentsabgeordnete Daria Mitina.

"Russland braucht keine neue Ideologie. Es gibt die Ideologie des Kommunismus, des Sozialismus", so die Volksvertreterin. Sie will allen Ernstes beobachtet haben, dass die Menschen dort, wo die russische Armee hinkommt, "als erstes die roten Fahnen herausholen und die Denkmäler für Lenin wiederherstellen". Fest steht freilich, dass solche Symbole in der Ukraine weitgehend abgeräumt wurden.

"Ich hasse Gewalt"

Die "imperiale" Ideologie, die rechtsextreme Denker wie der "Philosoph" Alexander Dugin anbieten, scheint entweder zu intellektuell zu sein oder zu radikal, jedenfalls gilt sie außerhalb der "Ultra-Patrioten" als nicht mehrheitsfähig. Dugin orientiert sich am Zarenreich und seinen Grenzen und teilt die Wertvorstellungen der russisch-orthodoxen Kirche. Allerdings spricht er ständig von der bevorstehenden "Apokalypse" und dem "jüngsten Gericht", was viele Durchschnitts-Russen abschrecken dürfte. Auch die "Satanismus"-Predigten gegen den Westen wirken bei konsum- und wohlstandsorientierten Russen befremdlich.

Dugin leitet den Anspruch Russlands auf ein Imperium vom byzantinischen Reich ab, also im erweiterten Sinne von den Römern. Der Zar sei dafür zuständig gewesen, das "Erscheinen des Antichristen in der Welt" zu verhindern. Deshalb sei die Monarchie bis zur Oktoberrevolution "heilig" gewesen. Zu den 14 "traditionellen Werten", die Dugin in Russland gelten lässt, gehören neben Patriotismus eine "starke Familie", "Barmherzigkeit" und "hohe moralische Ideale".

An skurrilen Anekdoten herrscht in der Ideologie-Debatte übrigens kein Mangel: Der 22-jährige Russe Alexander Schkurin, der nach Finnland emigriert war, kehrte in sein Heimatland zurück und wurde interviewt. Bis zu einem "gewissen Grad" sei er aus ideologischen Gründen zurückgekommen, so der Jugendliche und nannte kremlkonform die Werte "Familie, Freunde und Vaterland". Doch es gebe noch einen "sehr wichtigen Aspekt": "Ich hasse Gewalt."

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