27.04.2023, Sachsen, Leipzig: Die Autorin Ulrike Draesner ·Die Verwandelten· sitzt in einer Vorstellungsrunde der für den Preis der Leipziger Buchmesse Nominierten in der Kategorie Belletristik auf der Messe. Nach drei Jahren Zwangspause findet die Buchmesse vom 27. bis 30. April wieder statt. Am selben Nachmittag wird der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen. Er wird in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung vergeben und ist mit insgesamt 60 000 Euro dotiert. Foto: Jan Woitas/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Leipziger Buchmesse 2023

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Ulrike Draesner "Die Verwandelten": Identitätssuche und Heimat

In ihrem Roman "Die Verwandelten" erzählt Ulrike Draesner die bewegenden Geschichten zweier Familien in der Zeit vor, während und nach dem Nationalsozialismus – und zwar aus weiblicher Perspektive.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Ulrike Draesner erzählt in "Die Verwandelten" – aus weiblicher Perspektive – die Geschichte zweier Familien in der Zeit vor, während des Nationalsozialismus - und danach. Der Roman spielt an zwei Orten: In Münchner Stadtteil Solln und – im heute polnischen – Breslau, der Heimatstadt der deutschen Familie Valerius. Verbunden sind die beiden Familiengeschichten durch Alissa, die uneheliche Tochter des Hausherrn und der polnischen Köchin im Hause Valerius. Alissa wird während des Nationalsozialismus weggegeben in ein Lebensborn-Heim in Bayern und adoptiert von Zieheltern, die dem Nationalsozialismus nahestehen.

Identitätssuche und Identitätsverlust

Eine "Verwandlung" machen in Draesners Buch die beiden Hauptprotagonistinnen durch: Alissa, die uneheliche Tochter des Hausherrn, und Walla, seine leibliche Tochter. Alissas Identitätsverlust zeigt sich schon in ihrer Namensänderung. Sie wird von ihren Zieheltern Gerd und Gerda – arisch deutsch – Gerhild genannt. Walla hingegen heißt im deutschen Breslau noch Renate. Als sich die Jugendliche weigert, nach dem Krieg ihre alte Heimat zu verlassen, ist der Preis dafür hoch: Sie nimmt eine neue polnische Identität an und verleugnet ihre deutsche Herkunft. Beide Frauen werden im Alter von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Diese Identitäts- und Ortswechsel kommen Draesners Lust an Sprache und Sprachspielen entgegen. Draesner mischt schlesische Ausdrücke, z.B. "Mir ist ganz frimmselig", mit polnischen Redewendungen, die sie – gezielt wörtlich – ins Deutsche übersetzt und damit eine poetische Wirkung erzielt. Manche Sätze lässt sie auch stehen im polnischen Original. In ihrer Sprache tragen die Frauen ihre alte Heimat in sich. Ironie, Heimweh, Sprachwitz – all das vermischt sich in den "Verwandelten". Etwa wenn Alissa alias Gerhild über ihre neue Identität aufgeklärt wird. "Ger" bedeutet "Speer". Sie – die Polin – sei somit ein "volldeutsches Speerkind"

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"Die Verwandelten" von Ulrike Draesner

Weibliche Biographien

Der Krieg und die Nachkriegszeit werden aus dem Blickwinkel von Frauen erzählt. Es sind weibliche Biographien und Geschichten. Etwa die traumatischen Vergewaltigungen, die Walla und ihre Mutter durchleiden, als sie versuchen, Breslau aus Angst vor den russischen Soldaten zu verlassen. Auch die Geschichte der beiden Familien erzählt Ulrike Draesner aus weiblicher Sicht: Die junge Köchin in der Familie Valerius muss gegen ihren Willen ihr uneheliches Kind zur Adoption freigeben. Sogar Gerda wird mit einer gewissen weiblichen Solidarität geschildert: Sie ist nicht nur die beinharte Nazi-Frau, sondern in sexueller Hinsicht selbst Opfer ihres Ehemannes Gerd.

Weitergabe an die nächste Generation

Eindrucksvoll gelingt es Draesner, eine Vielfalt erzählerischer Töne anzuschlagen. Poetisch und liebevoll – etwa die Schilderung der Oder in Breslau – aber es gibt auch extrem drastische Szenen wie die Flucht von Walla, die geradewegs ihrem russischen Vergewaltiger in die Arme läuft. Die Autorin zeichnet in ihrem Roman keine historischen Schwarz-Weiß-Bilder. Die Protagonistinnen haben – unter Zwang – eine neue Identität entwickelt, aber in ihrer Sprache, ihren Träumen, ihren Lieder tragen sie zugleich ihre alte Identität weiterhin in sich, die sie auch an die nächste Generation, die ihrer Töchter, weitergeben.

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