"Man spricht sich eigentlich selber zu, dass egal was man macht, egal was man anfängt, dass alles funktionieren wird. Dass man immer Glück im Leben hat und dass alles im Leben so kommt, wie es sein soll.", so erklärt die Influencerin Selina Tossut, die unter anderem den TikTok-Kanal „tastyselly“ betreibt das Konzept des "Lucky Girl Syndromes". Für Selina war es die Rettung aus einer sehr harten Phase in ihrem Leben: „Ich bin durch eine schwere Zeit gegangen. Und ich wusste mir selber nicht rauszuhelfen. Mir ging es einfach super schlecht. Ich hatte extreme Depressionen. Und dann habe ich angefangen, Bücher darüber zu lesen, dann aus dem Leid heraus damit angefangen und gemerkt wie gut es mir tut“. Grundlage für diese Idee ist das sogenannte Manifestieren, genauer gesagt das "Gesetz der Anziehung“. Ein eher pseudowissenschaftliches Konzept, bei dem man davon ausgeht, dass Gleiches immer Gleiches anzieht. Wer also positive Energie ins Universum sende, so die Idee, erhalte auch positive Energie zurück.
Ein fragwürdiges Konzept
Was für Selina eine 180-Grad-Wendung in ihrem Leben war, ist für die Kulturwissenschaftlerin Annegret Braun ein gefährliches Konzept: "Ich finde es äußerst problematisch. Es ist schon gut, wenn man versucht, Dinge positiv zu sehen und auch eine dankbare Haltung entwickelt. Weil uns geht es ja ziemlich gut, wenn man die Weltlage betrachtet. Aber wenn man alle negativen Gefühle ausblendet, ist es sehr auch gefährlich, weil jeder Mensch hat auch diese Gefühle. Und wenn die nicht unterdrückt werden, dann kommen sie an irgendeiner anderen Stelle heraus.“ Diese sogenannte "Toxische Positivität“ ist einer von vielen Kritikpunkten dieses Glückskonzepts. Auch gebe man jegliche Verantwortung für das eigene Handeln ab und möglicherweise bestehende Privilegien würden nicht reflektiert. Für Selina sind diese Argumente alle nicht neu. Es sind typische Kritikpunkte, die sie immer wieder zu hören bekommt. Sie hat diese Punkte für sich geklärt. Man müsse auch selbst handeln, natürlich dürften auch negative Emotionen existieren und vielleicht helfe weniger privilegierten Menschen positives Denken ja trotzdem.
Müssen wir denn immer glücklich sein?
Egal, wie man zu diesen Fragen steht, die viel entscheidendere ist vielleicht, ob wir überhaupt ständig auf der Suche nach Glück sein sollten, sagt Kulturwissenschaftlerin Annegret Braun: "Ein Dogma entsteht, ein Muss. Man muss glücklich sein, und es wird suggeriert, man kann auch glücklich sein und zwar dauerhaft glücklich sein und das ist eine Illusion." Das Nachjagen dieser Illusion und das Scheitern daran, ständig glücklich zu sein, würde auf Dauer frustrieren. Trotzdem ist dieses unaufhaltsame Streben nach Glück ein Phänomen unserer Zeit, obwohl es vielen Menschen heute besser als je zuvor in der Geschichte geht. Was paradox klingt, ist für Annegret Braun total schlüssig: "Das macht total Sinn, dass wir heute nach Glück suchen, weil wir eben alles haben und weil uns nur noch der Sinn fehlt. Zu was ist das alles gut, was wir haben? Und im Mittelalter in den vergangenen Jahrhunderten, da haben die Menschen im Glauben einen Sinn gefunden.“
Coaches als Kirchen-Ersatz
Diese sinnstiftende Institution fehlt vielen mittlerweile. An ihre Stelle rücken Ratgeber, Coaches und ein Hype um spirituellere Lebensweisen. Viele der Dinge, die dort angepriesen werden, finden sich auch in der Kirche, so Braun. Meditation durch Bibellesen und Gebete, ein Fokus auf Dankbarkeit und Nächstenliebe. Den Sinn im Glück selbst zu suchen und nicht durch Sinn glücklich zu werden, sei eine Sackgasse. Trotzdem können manche Ansätze, auch der des Lucky Girl Syndroms, ein Leben durchaus bereichern. Nur eins sollte man nicht vergessen, sagt Annegret Braun: Glück ist ein Kontrasterlebnis. Wer immer glücklich ist, wird dem Glück gegenüber gleichgültig.
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