Mann mit Brille und Anzug
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Ralf Rothmann 2016

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"Theorie des Regens": Ralf Rothmanns Notizen aus 50 Jahren

Viele seiner Romane sind Bestseller, in diesem Jahr erhält er den Thomas-Mann-Preis, und am 10. Mai feiert er seinen 70. Geburtstag. Ralf Rothmann legt aus diesem Anlass einen Band mit Notizen aus 50 Jahren vor: "Theorie des Regens".

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Eine der vielen fulminanten Notizen des Schriftstellers Ralf Rothmann aus den Jahren 1973 bis 2023 lautet: "Man tut alles für das Lächeln der einen und einzigen Frau, und was kriegt man? Das Knurren des Rezensenten." Für dieses Buch allerdings schlägt Ralf Rothmann nun von Seiten der Kritik nur Lob entgegen. Zu recht.

Aus rund drei Dutzend Notizheften ist dieses gut 200-seitige Konvolut entstanden, und wie das kam, erzählt Ralf Rothmann im BR-Interview so: "Ich habe diese Notizen ja ursprünglich gemacht, um sie später mal in Romanen und Erzählungen zu verwenden. Ich habe auch immer brav ein Häkchen hinter die Notizen gemacht, die ich verwendet hatte. Dann bekam ich eine Anfrage von einem Literaturarchiv, das meinen Vorlass haben wollte. Das machte mir klar: Um Gottes willen, jetzt werde ich ja schon 70, die wollen meinen Vorlass, das ist ja schon der halbe Nachlass. Und daraufhin habe ich meine Notizhefte mal durchgesehen und festgestellt: Da sind so viele schöne, lesenswerte Stellen darin, das wäre einfach zu schade, wenn die in der Dunkelheit irgendwelcher Archive verschwinden würden. So habe ich dann den Band mehr oder weniger chronologisch zusammengestellt."

Feine Beobachtungssplitter

Es sind feine Beobachtungssplitter, die der Autor moderner Roman-Klassiker wie "Milch und Kohle", der Verfasser meisterhafter Erzählungsbände wie "Hotel der Schlaflosen" jetzt vorlegt. In denen taucht der junge Iggy Pop im Berlin-Schöneberg der späten 1970er-Jahre ebenso auf wie Peter Handke in den frühen 1990er-Jahren.

Er habe nie für "blasierte Akademiker und Feuilletonfuzzis" geschrieben, sondern seine idealen Leser, so schreibt Ralf Rothmann sehr früh, seien Mutter und Vater gewesen, ganz gewöhnliche Leute: "Wenn schon jemanden vor Augen oder im Sinn haben beim Schreiben, dann meine hart arbeitenden Eltern, nicht diesen Literaturklüngel."

Der Titel dieser Notizen ist wunderbar gewählt: "Theorie des Regens". "Es gibt sie tatsächlich, die ersehnte Weltformel, die alles umfassende Theorie", schreibt er mal mit Blick auf Werner Heisenbergs Suche nach der universellen Formel: "Der Regen kritzelt sie in die Pfützen." In so einer Formulierung erkennt man auch den Lyriker Ralf Rothmann, als der er begonnen hat.

Thomas-Mann-Preisträger wider Willen?

"Wenn es eine Pflicht für einen Schriftsteller gibt, dann die, seiner Sehnsucht zu folgen und sich nicht vor Erfahrungen zu drücken." Rothmann ist seiner Sehnsucht gefolgt – und deshalb auch viel gereist, durch Nord-, Mittel- und Südamerika zum Beispiel. Er hat zum Schreiben auch Orte fernab von Deutschland aufgesucht, griechische Inseln wie Hydra und Poros. "Einsames, zielloses, nur der Inspiration folgendes Reisen ist der Zustand, der mich noch am ehesten zur Sprache bringt." Das gilt bis heute für ihn.

Am 19. September wird Rothmann in München der Thomas-Mann-Preis 2023 verliehen. Sein Verhältnis zu Thomas Mann scheint allerdings ähnlich schwierig zu sein wie das Peter Handkes. Der sprach, als er den Thomas-Mann-Preis 2008 erhielt, von einem "Scheiß-Preis" und von einer "Mischung aus Bewunderung und Grausen" beim Werk von Mann. In Rothmanns Notizen findet sich folgender Eintrag zu Thomas Mann: "Manchmal kommt einem Thomas Mann in seiner hohlen Gravität wie der traurige und verklemmte Angestellte seiner eigenen Prosa vor. Jedes stilistische Straucheln wirkt bei ihm gleich peinlich, wie eine doppelte Bügelfalte, während es bei Heinrich Mann, dem eigentlichen Genie, Teil seiner Vitalität ist, ja diese noch betont. Einer Vitalität, die ihn mehrfach mit Recht schreiben lässt, seinem Bruder würde mal eine Nacht im Puff guttun."

Ist Rothmann also ein Thomas-Mann-Preisträger wider Willen? Das streitet der Wahlberliner vehement ab: "Nein, nein, im Gegenteil, ich bin Thomas Mann sehr dankbar, auch wenn das jetzt nicht so klingt. Denn es stimmt ja: Jeder hat ja ein zwiespältiges Verhältnis zu Thomas Mann. Einerseits diese gebügelte Bürgerlichkeit, aber andererseits auch dieses unfassbar Anrührende in seiner Sprache, seinen Sätzen. Thomas Mann, darin besteht ja auch die Faszination dieses Autors, war ganz und gar kein feinsinniger Autor. Aber er gibt seinen Lesern das Gefühl, feinsinnig zu sein. Für mich war Thomas Mann der erste Autor, den ich bewusst gelesen habe, als ich mir das Schreiben selbst beigebracht habe. Da habe ich mir den 'Tonio Kröger' vorgenommen und habe buchstäblich Silbe für Silbe analysiert, wie er das da gemacht hat. Insofern bin ich ihm auch heute noch enorm dankbar und lese ihn mit so einer Mischung aus Freude und Grausen, aber im Grunde immer mit Interesse."

Rothmanns Verhältnis zu Handke

Mit Vorbildern täte er sich eh schwer, schreibt Rothmann. Aber Peter Handke ist schon eines, wenn man an die Auftakt-Erzählung "Abschied von Montparnasse" aus seinem Erzählungsband "Shakespeares Hühner" denkt. Dort hat er dem Pariser Waldpilze-Sammler Peter Handke ein Denkmal gesetzt. 2012 erschien diese Geschichte, und wie man jetzt in Rothmanns Notizen liest, ist er Handke, der seine Prosa genauso preist wie Rothmann die seine, 1992 begegnet in Chaville: "Er hat sich nicht nur eine frische Geistesgegenwart, er hat sich eine ganz reine Kindlichkeit bewahrt, ein Staunen über den vagen Glanz der Nebendinge, und sein blauer Blick lässt jede Abgeklärtheit stümperhaft aussehen."

Handke ist selbst auch immer schon ein großer Tagebuchschreiber gewesen. Insofern gehören auch die Notizbücher des Literaturnobelpreisträgers, allen voran "Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977)" zu Rothmanns "Herzensbüchern": "Das war schon eine Sensation damals, denn da hat einer den Versuch unternommen, alles, was ihm zustößt, unmittelbar augenblicklich in Sprache zu verwandeln. Das hat Handke bravourös gemacht, das war für mich eine Offenbarung. Meine Verehrung für Peter Handke hat dann allerdings deutlich nachgelassen, als er seine serbischen Scherzmucken kriegte. Da war dann bei mir auch irgendwann mal Schluss."

Bald ein neuer Erzählungsband

Erzählungen, so schreibt Rothmann in seinen Notizen, besäßen eine "tiefere Wahrheit" als Romane, sie offenbarten auch mehr über ihren Verfasser. "In Erzählungen kann ich wirklich sagen, was mir auf der Seele liegt." Als er sechzig wurde, notierte er: "Sechzig bin ich – aber sowas von frühreif!"

Morgen feiert er seinen 70. Geburtstag – und schaut gelassen aufs Alter. Gegenüber dem BR sagt er: "Es geht mir gut, ich bin neugierig, was noch kommt und sehe eigentlich immer nur von einem Buch zum nächsten. Ich habe einen Erzählungsband gemacht, den ich jetzt ausarbeiten werde, und dann schauen wir mal, was noch kommt. Ich hoffe, es kommt noch was." Diese Hoffnung des Autors Ralf Rothmann ist auch die große Hoffnung seiner Leser.

Ralf Rothmann: "Theorie des Regens". Notizen. Bibliothek Suhrkamp. 24 Euro

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