Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan stehen im Duisburger Norden, noch vor dem amtlichen Ergebnis der Stichwahl in der Türkei, mit türkischen Nationalfahnen auf der Straße.
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Mehr als zwei Drittel pro Erdogan: Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan feiern den Wahlsieg ihres Favoriten in Duisburg.

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Theatermacher zu Türkei-Wahl: "Reaktion auf kollektives Trauma"

Mehr als zwei Drittel der wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Deutschland haben für Erdoğan gestimmt. Der Theatermacher Nuran David Calis hat dafür eine Erklärung, die auch mit den Erfahrungen der türkischen Community in Deutschland zu tun hat.

Über dieses Thema berichtete kulturWelt am .

Als "nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie" und "Zeugnis unseres Scheiterns" hat Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) die Autokorsos von Anhängern des frisch wiedergewählten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland kritisiert. In mehreren deutschen Städten haben Türken und türkischstämmige Männer und Frauen den Wahlsieg ihres Favoriten mit solchen Autokorsos und mit spontanen Zusammenkünften gefeiert. Rund 67,4 Prozent der wahlberechtigten Türken in Deutschland stimmten für Erdoğan – erneut weit mehr als in der Türkei, wo der türkische Präsident auf rund 52 Prozent kam.

Warum fällt die Zustimmung zu Erdoğan gerade in Deutschland so hoch aus? Erdoğan zeige "den Menschen einen Weg der Zugehörigkeit und des Zusammenseins, den andere Oppositionelle so nicht zur Verfügung stellen", sagt Theatermacher Nuran David Calis im Gespräch mit der Bayern 2 kulturWelt. Calis beschäftigt sich als Sohn jüdisch-armenischer Eltern, die vor dem Militärputsch 1980 in der Türkei nach Deutschland kamen, in seinen Theaterabenden immer wieder mit Themen rund um die Türkei. An den Kammerspielen in München läuft gerade seine Tragödie "Das Erbe" über die fremdenfeindlichen Brandanschläge von Mölln 1992.

Türken in Deutschland litten unter "kollektivem Trauma"

Persönlich und "als politischer Mensch" zeigt sich Nuran David Calis tief enttäuscht vom Ausgang der Wahl. Trotzdem ist für ihn nachvollziehbar, warum so viele in der türkischen Community in Deutschland für Erdoğan gestimmt haben. Neben der systematischen Schwächung der Opposition durch Erdoğan und dem Fehlen eines wirklich charismatischen Oppositionsführers sieht der Theatermacher die Gründe für das hohe Abschneiden Erdoğans hierzulande auch in der deutschen Geschichte: "Es gibt kein europäisches Land, wo die türkische Minderheit so sehr gelitten hat. Man muss nur an die Brandanschläge in Mölln und Solingen denken und auch an die NSU-Serie", so Calis. Es gäbe kein Land, in dem "so bestialisch" gegen die türkische Minderheit vorgegangen worden sei, "und das ist natürlich tief drin in diesen Menschen".

Die anhaltend hohe Zustimmung zum türkischen Präsidenten sieht Calis deshalb auch als "Reaktion auf ein kollektives Trauma der türkischen Community in Deutschland." Viele seien der Meinung, dass Erdoğan "der einzige Mensch ist, der die Türken wirklich beschützen kann".

Zustimmung auch in der dritten, vierten Generation

Diese Haltung sei bei weitem nicht nur auf türkischstämmige Deutsche begrenzt, die selbst noch in der Türkei geboren sind. Sie finde sich laut Calis auch bei "Türkinnen und Türken in der dritten, vierten Generation, die hier sind." Denn auch sie teilten Erfahrungen der Ausgrenzung und Bedrohung in Deutschland. "Ich habe natürlich auch Freunde in meiner türkischen Community, die Erdoğan wählen, und ich stelle mich den Auseinandersetzungen als politischer Mensch."

Als kreativer Mensch sieht sich Nuran David Calis aber auch in einer anderen Rolle: "Da ich als Autor, Regisseur, Künstler unterwegs bin, sehe ich auch die Notwendigkeit, in das Verständnis dieser Menschen zu kommen. Und ich muss sagen, dass sie wirklich eine kollektive Katastrophe hinter sich haben. Viele türkischstämmige Mitbürger haben sich wirklich als Freiwild gesehen und haben auch wirklich zahlreiche Todesfälle zu beklagen, was mit dazu geführt hat, dass sie kein Vertrauen mehr in diese Gesellschaft haben."

Zahlreiche türkischstämmige Menschen sind in den letzten dreißig Jahren rassistischen Anschlägen in Deutschland zum Opfer gefallen. Beim Brandanschlag von Mölln in der Nacht auf den 23. November 1992 starben drei Menschen mit türkischer Abstammung, neun wurden schwer verletzt. Beim Brandanschlag von Solingen am frühen Morgen des 29. Mai 1993 kamen fünf türkischstämmige Menschen ums Leben. Auch von den zehn Opfern der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) von 2000 bis 2007 hatten acht einen türkischen Migrationshintergrund. Erst vor drei Jahren starben beim Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 zehn Menschen, darunter vier mit türkischem Hintergrund.

Der mit diesen Erfahrungen verbundene Vertrauensverlust in die Demokratie in Deutschland werde von Erdoğan ausgenutzt, einem Präsidenten, "zu dem sie einen unheimlich starken Heimat-Bezug haben".

Exodus und Verhärtung der Fronten droht

Nuran David Calis befürchtet, dass es nach der Wahl einen großen Exodus geben werde, dass Intellektuelle und Künstler die Türkei verlassen werden. Die migrantische Gesellschaft in Deutschland drohe, weiter auseinanderzudriften. Calis selbst will in seiner Rolle als Künstler "weiter Brücken bauen" und "für Verständnis sorgen über die Kunst, über die Literatur, über das Theater, über den Film". Das sei vielleicht "die einzige Kraft, die Menschen füreinander wieder empathischer, sensibler, mitfühlender zu machen".

Es sei notwendig, vom eigenen Standpunkt wegzukommen und den Blickwinkel zu weiten und sich zu fragen: "Was haben wir in den letzten 30, 40, 50, 60 Jahren – solange sind die türkischen Migranten hier – was haben wir denn versäumt? Und wie können wir vielleicht von hier aus ein Signal in die Türkei schicken und weiter Brücken bauen?"

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