"Putin weiß, dass Russland von ihm verlangt, so ähnlich wie Stalin zu werden, aber er will nicht", klagt der ultrapatriotische Politologe Sergej Markow. Über kurz oder lang werde sich Putin angesichts der desolaten Lage an der Front allerdings an Stalin messen lassen müssen. Die russischen Nationalisten klagen seit langem darüber, dass der Kreml aus ihrer Sicht viel zu halbherzig und unentschlossen vorgeht, sich sowohl vor einer weiteren Mobilisierung scheut, als auch vor noch mehr Repressionen. Im Übrigen wünschen sich die Rechtsextremen eine deutlich umfassendere Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur. Doch die zögerliche Haltung Putins erklären die beiden Investigativ-Journalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan im Fachblatt "Foreign Affairs" jetzt zur Strategie.
"Irgendwann wird sein Spielraum enger"
Mit seinen vermeintlichen "Halbheiten" sei Putin im ersten Kriegsjahr gut gefahren. Verbal habe er sich zwar radikal gebärdet, tatsächlich jedoch auf vergleichsweise vorsichtige Schritte gesetzt: "Es hat ihm ermöglicht, durch eine Kombination aus Einschüchterung und Gleichgültigkeit politische Stabilität aufrechtzuerhalten. International und national hat es ihm geholfen, Russland auf einen sehr langen Krieg vorzubereiten, ohne die Art von Opfern zu bringen, die letztendlich dazu führen könnten, dass die Bevölkerung rebelliert. Und vor allem hat es ihm Flexibilität gesichert. Die radikaleren Optionen – einschließlich Verstaatlichung der Wirtschaft und vollständige Mobilisierung – stehen noch zur Verfügung, und die Bürokratie des Landes ist bereit, sie jederzeit in Gang zu setzen."
Je länger der Krieg andauere, desto größer werde allerdings der Druck auf Putin, "drastischere Schritte" einzuleiten: "Irgendwann wird sein Spielraum enger." Dann sei der jetzige "nicht ganz totale Krieg" unter größtmöglicher Schonung der Bevölkerung, der Wirtschaft und nur teilweise eingeschränkter Meinungsfreiheit wohl nicht mehr durchzuhalten.
"Jeder schuldet ihm was"
Zur Debatte über Putins vermeintliche Zurückhaltung verwies der italienische Historiker und Russlandkenner Andrea Graziosi in einem Gespräch mit der Exil-Zeitung "Novaya Gazeta" darauf, dass Putins abwartendes Handeln im Vergleich zu Stalin "aus Größenwahn" zu erklären ist: "Er glaubt, dass er den heutigen russischen Staat aufgebaut hat, wo er doch seit mehr als zwanzig Jahren an der Spitze steht. Jeder, der eine Führungsposition erhielt, wurde von ihm ernannt. Jeder schuldet ihm etwas. Stalin konnte sich 1931 bis 1934 nicht so sicher sein, weil die sowjetische Elite neben ihm leninistisch geprägt war. Sie waren alle ungefähr auf dem gleichen Niveau."
Putin sei seit Beginn seiner Herrschaft "äußerst selektiv in der Anwendung offener Gewalt", so Graziosi, und habe als Bewunderer des Schriftstellers und Lagersystem-Anklägers Alexander Solschenizyn außerdem ein konfliktträchtiges Verhältnis zu Stalin. Wenn überhaupt, könne Putin mit dem Stalin von 1945 verglichen werden, der damals als Sieger des Zweiten Weltkriegs ziemlich sicher sein konnte, alle Gegner ausgeschaltet zu haben und unangefochten zu sein.
"Viele Katastrophen anderer Art"
Oleg Pschenitschny, der Herausgeber des russischen Auslands-Portals "The Insider" philosophierte darüber, ob es nach Putins Abgang wohl ähnlich schnelle politische Veränderungen geben werde wie nach Stalins Tod am 5. März 1953. Der Machtwechsel werde wohl "noch geschwinder und unterhaltsamer" ablaufen, so der Fachmann, denn die "Gesetze der Thermodynamik" könnten halt weder Stalin, noch Putin außer Kraft setzen.
Verschärft wird Putins Lage durch die unablässige Kritik von Leuten wie dem Söldnerführer Jewgeni Prigoschin, der inzwischen offen damit droht, seine "Wagner"-Leute vom Kampfeinsatz abzuziehen. Dann allerdings werde die Front schnell "bröckeln" und die Krim "fallen", abgesehen von "vielen Katastrophen anderer Art". Ungeachtet seiner Proteste werde ihm das Leben weiter erschwert, so Prigoschin, es komme weder neues Personal, noch die versprochene neue Munition. Einem seiner Emissäre sei sogar der Zutritt zum Oberkommando entzogen worden.
"Sie werden in die Städte zurückkehren"
"Natürlich kann der Sondereinsatz schon morgen enden, wenn man dem üblichen bürokratischen Weg folgt. Sie können sich von allen Kampflinien zurückziehen, auf denen sich unsere Truppen jetzt befinden", spottete der Kriegsunternehmer. Ein zweiter Krieg mit der NATO könne "sich aber als noch tragischer und blutiger erweisen als der erste": "Deshalb müssen wir hier und jetzt für Russland kämpfen."
Ob das noch lange der Fall sein wird, ist fraglich: Im Netz kursieren wilde Verschwörungstheorien, wonach der Kreml die "Wagner"-Söldner ins Messer laufen lässt, um sie loszuwerden. Prigoschin selbst behauptet, die Ukraine habe eine Gegenoffensive gestartet, um seine Leute einzukesseln und unschädlich zu machen, es gebe die "Möglichkeit einer Niederlage" vor Bachmut. Was daran Propaganda in eigener Sache ist, um an mehr Munition zu kommen, lässt sich von außen nicht beurteilen. BBC und "New York Times" berichten jedenfalls von erstaunlichen, völlig unerwarteten Gegenstößen der Ukraine.
Ängstliche Gemüter malen sich bereits aus, was passiert, wenn der geschäftstüchtige Oligarch Prigoschin wirklich beschließt, die Segel zu streichen und seine Leute heimzuholen: "Wohin werden sie gehen? Sie müssen davon ausgehen, dass sie in die Städte zurückkehren werden. Sie werden auch nach Moskau zurückkehren. Sie werden nach St. Petersburg, Krasnodar, Sewastopol zurückkehren. Sie werden Antworten benötigen, weil es viele Fragen geben wird. Wer wird mit ihnen sprechen?" Prigoschin machte kein Hehl daraus, dass er den Gouverneur von St. Petersburg, einem Vertrauten von Putin, am liebsten "mit dem Besen" aus dem Amt fegen würde - eine Drohung, die im Kreml Gehör finden dürfte.
"Wir betreiben Geschäfte"
Die offene Frage ist, ob Putin wirklich aus eigenem Ermessen eher behutsam eskaliert. So machte der russische Militärjournalist Alexej Leonkow seinen Landsleuten jetzt klar, warum Russland beim besten Willen den Nachschub westlicher Waffen nicht unterbinden könne. Um die entsprechenden Transporte mit hochpräzisen Raketen auszuschalten, benötige man Positionsdaten, die maximal 15 bis 20 Minuten alt sein dürften, ansonsten sei es Verschwendung teurer Projektile. Doch Langstrecken-Aufklärungs-Drohnen habe Russland nicht, und der Einsatz von Satelliten oder Agenten koste viel zu viel Zeit, schließlich müssten Daten "verifiziert" werden: "Wir haben Schwierigkeiten mit der Aufklärung, die wir zu lösen versuchen. Aber so schnell ist das nicht möglich."
Von der Front kommen unterdessen täglich Meldungen, wonach sich ganze Truppenteile weigern, in den Kampf zu ziehen. Es herrscht akuter Mangel an gepanzerten und nicht gepanzerten Fahrzeugen, an Ausrüstung jedweder Art. Der Zustand der Armee ist beklagenswert, wie es zahlreiche Telegram-Posts und der Stillstand an der Front dokumentieren. Putin selbst soll im Sicherheitsrat geschimpft haben, "mehr als die Hälfte" der Soldaten kämpften nicht wirklich.
Anerkennend schrieb der russische Blogger Alexander Chodakowski über den zähen Widerstand ukrainischer Soldaten bei Bachmut: "Sie glauben, dass sie ihr Land schützen – es scheint, dass diese Wahrheit uns noch nicht erreicht hat." Ähnlich pessimistisch schätzte der Blogger Roma Golowanow die Motivation seiner russischen Landsleute ein: "Wir führen keinen Krieg, wir betreiben Geschäfte. Wir müssen stark genug sein, um Verhandlungen zu erzwingen, damit der Feind einsieht, dass es rentabler ist, mit uns zu verhandeln, als zu kämpfen. Die Vereinigten Staaten sind immer noch davon überzeugt, dass es rentabler ist, mit uns zu kämpfen."
"Putin wird an der Macht bleiben"
Entschieden "halbherzig" ist die Prognose, die der Politologe Wolfgang Münchau für den britischen "New Statesman" über Putins weiteres Schicksal aufstellte. Der Westen werde in der Unterstützung der Ukraine ermüden, so der Fachmann: "Der Grabenkrieg wird weitergehen; die ukrainische Gegenoffensive wird erfolgreich sein, aber nur teilweise. Ein von Aufmerksamkeitsdefizit geplagter Westen wird irgendwann an Durchhaltevermögen verlieren." Der Druck auf ein Friedensabkommen, das die Unabhängigkeit der Ukraine und die Rückgabe der meisten, aber nicht aller ihrer Gebiete garantiere, werde zunehmen.
"Putin wird in Moskau an der Macht bleiben. Es wird kein Kriegsverbrechertribunal geben. Die Sanktionen werden aufgehoben – aber bis dahin werden Russland und China eine strategische wirtschaftliche und militärische Allianz gebildet haben. Putin wird sein nächstes Projekt, die Annexion von Belarus, vorantreiben", so die Erwartung von Münchau.
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