Man sieht die Schauspielerin Cate Blanchett aus extremer Untersicht als Dirigentin in dem Film "Tár".
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Schauspielerin Cate Blanchett als Dirigentin in dem Film "Tár"

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"Tár": Cate Blanchett als Dirigentin der Berliner Philharmoniker

Todd Field wollte unbedingt Cate Blanchett als Hauptdarstellerin: Sie oder keine. Der Hollywoodstar spielt nun also Lydia Tár, die einem der wichtigsten deutschen Orchester vorsteht. In der Klassikszene hat der Film bereits viel Staub aufgewirbelt.

"Tár" ist ein Film, wie es ihn nicht oft gibt im Kino – fordernd, ungewöhnlich und mitunter auch verwirrend. Da ist eine ungemein erfolgreiche Dirigentin, die mit ihrer deutschen Geliebten Sharon, großartig gespielt von Nina Hoss, in einem luxuriösen weiträumigen Loft in Berlin lebt. Die beiden haben eine kleine Tochter. In der männerdominierten Welt der klassischen Musik hat sich Lydia Tár ganz nach oben dirigiert. Mit Esprit, Witz und selbstironischem Charme, aber auch mit Härte, Disziplin und kühler Durchsetzungskraft. Gerade ist sie 50 geworden und hat ihre Autobiographie herausgebracht, die simpel "Tár über Tár" heißt.

Der Film beginnt mit einer langen Dialogszene, einem Künstlertalk beim "New Yorker Festival", bei dem ein renommierter Musikkritiker mit der Dirigentin vor vielen hundert Zuhörern ausführlich über das Leben, die Musik und denkbare Interpretationen spricht. Die Szene dauert 15 Minuten, wir erfahren etwa, dass Leonard Bernstein der Mentor von Lydia Tár war – und wer als Zuschauer im Kino nicht viel über klassische Musik weiß, wird sich manchmal vorkommen wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg. Macht aber nichts, denn Todd Field weiß schon, Spannung zu erzeugen.

Das Adagietto fünf Minuten schneller dirigiert als Bernstein

Lydia Tár spielt mit ihrem Orchester Gustav Mahlers Symphonien ein. Als Schlussstein soll die Fünfte folgen. Für das Adagietto setzt sie in ihrer Interpretation eine Dauer von sieben Minuten an. Bernstein hat zwölf gebraucht. Die Dirigentin wird getrieben von der Vorstellung, nicht anders als die alten Heroen, einzigartig zu sein. Es ist eine Gratwanderung, bei der sie mehr und mehr die Balance verliert. Sie wirkt egomanisch, beherrscht auch im Privatleben eine Klaviatur ganz unterschiedlicher Stimmungslagen. In ihren wahren Gefühlen bleibt sie rätselhaft. Als würde sie im steten Wechsel zwischen Sein und Schein, zwischen privaten Momenten und öffentlichen Auftritten, langsam verrückt werden.

Cate Blanchett spielt das mit genauso großer Hingabe wie ihre Figur dirigiert: Als Zuschauer bleibt man immer im Ungewissen, wer diese Frau ist. Mal wirkt sie unsympathisch, dann wieder einnehmend. Mal bösartig, dann selbst angstvoll wie ein Kind. Für Cate Blanchett ist es als Schauspielerin eine Rolle, die ihr eine neue Welt eröffnet hat – etwa in der besonderen Erfahrung, plötzlich als Maestra vor einem Orchester mit über einhundert Musikern zu stehen. Das habe sie verändert, sagt sie.

Paranoia einer Dirigentin

In der Klassikszene hat dieser Film seit seiner Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Venedig schon viel Staub aufgewirbelt, etwa, weil die Berliner Philharmoniker gar nicht wussten, dass ein Film irgendwie auch über sie entstanden war. Gedreht wurde unter dem Radar in der Philharmonie in Dresden. So gibt "Tár" interessante Einblicke in den Klassikbetrieb, über Probenabläufe, Orchesterhierarchien und Besetzungscastings. Über den Umgang mit Sponsoren und über die kleinen Tricks, mit denen sich Unsicherheiten beim Dirigieren verbergen lassen.

Ein Film über die Klassikszene als Thriller

Der deutsche Kameramann Florian Hoffmeister findet dazu Bilder, in denen immer etwas Bedrohliches mitschwingt, egal, ob er nun Cate Blanchett beim Dirigieren filmt, oft mit einer extremen Untersicht, oder ob er die Kamera durch die Räume der Privatwohnung schweben lässt.

"Tár" ist ein Film über Besessenheit und Kunst, über Liebe und Egomanie, über Macht und Verletzlichkeit. Vieles wird verhandelt, bisweilen im Stile eines Thrillers mit Horrorelementen, etwa mit geheimnisvollen Metronomen, die plötzlich anfangen zu ticken oder einer seltsamen Berliner Nachbarin, die man auch für einen Zombiefilm hätte besetzen können. Vieles wird nur angedeutet, manches erklärt sich bis zum Ende nicht. Auch, ob an den Vorwürfen des Machtmissbrauchs, die gegen Lydia Tár erhoben werden, wirklich etwas dran ist, bleibt offen. Vermutlich schon. Das Ende dieses kraftvollen und sehenswerten Films ist dann überraschend – mehr sei hier nicht verraten.

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