Junge Menschen in weißen Hemden mit Russland-Flagge
Bildrechte: Donat Sorokin/Picture Alliance

"Tag des Wissens": Russische Jugendliche marschieren mit Fahnen

    Studie: Militanter russischer Patriotismus "nicht von Putin"

    Sozialforscher wollen in Russland einen "blinden und aggressiven" Nationalismus festgestellt haben, der eher mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als mit dem jetzigen Präsidenten zu tun habe. Viele sehnten sich nach "Stabilität und Gleichheit".

    Verblüffend, dass amerikanische und russische Sozialforscher zum selben Ergebnis kommen: Nicht etwa Putin und seine Propagandisten seien verantwortlich für eine Welle des aggressiven Patriotismus, sondern es gebe in Russland eine Art "postimperiales Syndrom". Demnach trauern viele Russen der Sowjetunion hinterher und sind vor allem deshalb deutlich militanter und nationalistischer als andere Völker. Brisant ist die Studie vor allem deshalb, weil westliche Politiker häufig davor warnen, die Russen insgesamt für die Politik Putins in Mithaftung zu nehmen. Doch offiziellen Umfragen zufolge stützten jedenfalls bis zu den aktuellen militärischen Niederlagen in der Ukraine rund siebzig Prozent der Befragten den Angriffskrieg. Die Zahlen sind unter Soziologen allerdings höchst umstritten.

    Nur Bulgarien und Türkei noch patriotischer

    "Diese Politik stützt sich mindestens auf die stillschweigende Zustimmung, womöglich auf die aktive Unterstützung eines erheblichen Teils der Bevölkerung", bilanzieren die Forscher William Pyle und Michael Alexejew ihre in der "Moscow Times" zitierte Auswertung von Umfragedaten, die über mehrere Jahrzehnte in Russland erhoben wurden, also langfristige Stimmungslagen wiedergeben. Unter 44 Nationen, die in mindestens einer Umfrage-Welle erfasst wurden, liege Russland demnach, was den "militanten Patriotismus" betrifft, nur noch hinter Bulgarien und der Türkei.

    Ein Kriterium für besondere "Militanz" ist die Einstellung der Bevölkerung zur Höhe der Militärausgaben im Staatsbudget. Über alle Generationen hinweg, sogar bei den in anderen Ländern skeptischen Älteren, gebe es in Russland Unterstützung für massive Investitionen in Armee-Ausrüstung, so die Studie: "Dass die Russen Mitte der neunziger Jahre den Militärausgaben Priorität einräumten, ist angesichts der allgemein schlechten Wirtschaftslage und des schwierigen Zugangs zu öffentlichen Gütern besonders überraschend. Im Gegensatz dazu lässt sich der Rückgang der Unterstützung für Verteidigungsausgaben im Jahr 2016 leicht erklären, wenn man die lange Wachstumsphase und die offensichtliche Leichtigkeit der Eroberung der Krim im Jahr 2014 berücksichtigt."

    "Wirksamkeit der Propaganda nicht überschätzen"

    Der Kreml habe vorhandene Befindlichkeiten somit nur bestärkt, urteilen die Sozialforscher, die am Middlebury College und an der Indiana State University lehren: "Russlands Neigung zu blindem und militantem Patriotismus geht eindeutig nicht auf Wladimir Putin zurück. Gut möglich, dass Putin erkannte, dass ihm eine aggressive Außenpolitik gut tun würde, gerade weil er das Wesen des russischen Patriotismus verstand. Zudem sollte die Wirksamkeit von Putins Propaganda nicht überschätzt werden. Sie funktioniert wahrscheinlich nur, weil seine Botschaften beim russischen Publikum auf fruchtbaren Boden stießen."

    "Sowjetische Sehnsucht ist Trotzreaktion"

    Auch der russische Experte Sergej Solowjow von der Moskauer Uni kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: "Die Idealisierung und Mythologisierung der sowjetischen Vergangenheit, insbesondere der späten Sowjetzeit, ist eine Folge des Traumas der postsowjetischen Zeit." Es gebe einen "inoffiziellen Patriotismus der Basis": "Tatsächlich wünscht sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung der postsowjetischen Länder die Wiederherstellung einer Form sowjetischer Stabilität und Gleichheit zurück (ohne die sowjetischen Defizite). In dieser Hoffnung, das anhaltende Trauma zu überwinden, findet sich viel mehr Protest gegen soziale Ungerechtigkeit als Nostalgie oder Ressentiments."

    Der Kampf der Eliten "gegen das sowjetische Erbe" werde von vielen als "Kampf gegen die Ideologie der sozialen Gerechtigkeit" wahrgenommen: "Die sowjetische Sehnsucht ist eher eine Trotzreaktion, sie baut auf dem Trauma der 1990er Jahre auf, der Frustration nicht nur durch den Zusammenbruch des Sowjetstaates, sondern vor allem durch den ungeheuren Rückgang des Lebensstandards der Bevölkerung und mangelndem Vertrauen in die Zukunft. Frustration nährt Nostalgie (obwohl der Begriff in diesem Fall nicht ganz zutreffend ist) für die sowjetische Vergangenheit und ihre Idealisierung. Und die Bewohner nicht nur Russlands, sondern fast des gesamten postsowjetischen Raums erlebten das Trauma."

    "Für Putin ist das eine Zivilreligion"

    Seit dem neuen Schuljahr wird vor russischen Schulen die Flagge gehisst und die Hymne gesungen, außerdem gibt es "Patriotismus"-Unterricht, in dem allerdings nicht, wie angekündigt, vom Krieg die Rede ist, sondern von "traditionellen Familienwerten" und der "Einheit Russlands", wie das Oppositionsportal "Meduza" meldet: "Die Einführung des Vaterlandsunterrichts in den Schulen ist eine logische Fortsetzung der Politik, die der Kreml seit langem verfolgt. Darüber hinaus versteht Putin die Liebe zum Vaterland auf besondere Weise. Für ihn ist das buchstäblich eine Zivilreligion, und wer seine Heimat 'nicht richtig' liebt, ist ein Ketzer."

    Das liberale Wirtschaftsblatt "Kommersant" hat einen Blick in die Lehrpläne geworfen: "Es wird erwartet, dass die dritte bis vierte Klasse die Parolen 'Das Glück des Vaterlandes ist kostbarer als das Leben' und 'Für das Vaterland zu sterben ist nicht beängstigend ' zitieren können." Den Zehntklässlern werde beigebracht, dass "wahre Patrioten bereit" seien, "ihre Heimat mit der Waffe in der Hand zu verteidigen". Allerdings sei das "nicht die einzige Möglichkeit, Patriotismus zu äußern", so der Lehrplan: "Kenntnis der Geschichte des eigenen Landes, Respekt vor seiner Kultur und seinen Traditionen wird als Beispiel genannt."

    "Wir neigen dazu, großartig zu sein"

    Anders als der Kreml es womöglich gern hätte, ist der Patriotismus vieler Russen im Kern offenbar tatsächlich eine Angst- und Abwehrreaktion, wie die Sozialforscher behaupten. "Sie wollen uns die gewohnte Lebensweise nehmen, dank der unser Land seit dem zweiten Jahrtausend lebt. Sie wollen uns das nationale Russentum jedes Volkes der Russischen Föderation nehmen", schimpft ein offenbar kremlnaher Kolumnist bei seiner Definition von Vaterlandsliebe: "Wir neigen dazu, großartig zu sein. Patriotismus muss groß sein. Ziele müssen großartig sein. Tatsächlich ist alles viel einfacher und übersichtlicher. Die russische Welt - hier ist sie, direkt in der Nähe. Und das schützen wir. Und Patriotismus ist genau das. Es gibt keinen großen oder kleinen Patriotismus."

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