Es gibt Momente im Leben, nach denen ist nichts mehr wie zuvor: Liebe auf den ersten Blick. Ein tragischer Unfall. Das Erkennen der eigenen Bestimmung. Als Steven Spielberg sechs Jahre alt war, hatte er all diese prägenden Erlebnisse auf einmal.
Sieben Oscar-Nominierungen für "Die Fabelmans"
Voller Ehrfurcht in den Sessel gepresst, sah er bei seinem ersten Kinobesuch 1952 in Cecil B. De Milles "The Greatest Show on Earth", wie zwei Züge miteinander kollidierten, Waggons entgleisten und sich ineinander verkeilten, Autos und Menschen durch die Gegend geschleudert wurden – ein frühes Wunderwerk der Tricktechnik, das den staunenden kleinen Kinobesucher die Welt mit anderen Augen sehen ließ und den Wunsch entfachte, Ähnliches zu schaffen.
So jedenfalls schildert es Spielberg in der Anfangsszene von "Die Fabelmans": Sein neues und siebenfach oscar-nominiertes Werk ist eine semi-autobiografische Liebeserklärung ans Filmemachen und an seine dysfunktionale Familie, deren kreative Ader seine Mutter war. "In dieser Familie konkurriert die Wissenschaft mit der Kunst. Sammy ist in meiner Mannschaft und kommt nach mir."
Die Fabelmans- Filmszene
Spielberg hat einen Blick fürs Detail und Miteinander der Figuren
Hauptfigur Sammy Fabelman ist das alte Ego von Steven Spielberg. Rein formal ist "Die Fabelmans" ein Coming-of-Age-Film, der davon handelt, wie einer der größten lebenden Hollywood-Regisseure zwischen seinem sechsten und 16. Lebensjahr die Basis für spätere Meisterwerke geschaffen und sich autodidaktisch Regie- und Kameraarbeit, Schnitt und die Kunst des Wow-Effekts beigebracht hat. Was nach selbstverliebter Nabelschau klingt, geht weit tiefer.
Denn wie es nun mal so ist bei Spielberg: Die Handlung lebt von seinem Blick fürs Detail und dem Miteinander der Figuren. Da wären zum einen die herzhaft lustigen Momente, die im spleenigen Schlagabtausch der jüdischen Großfamilie wurzeln und jeder noch so kurz auftretenden Nebenfigur eine große Bühne bieten. "Wir sind Süchtige! Und Kunst ist unsere Droge. Familie lieben wir. Aber Kunst – wir sind meschugge nach Kunst!"
Auseinanderdriften der Eltern
Zum anderen wäre da der emotionale Kern dieser Geschichte: das schleichende Auseinanderdriften der Eltern, die Depressionen von Sammys extrovertierter Mutter, die Hilflosigkeit seines beruflich erfolgreichen, aber familiär überforderten Vaters. Die filmischen Ambitionen seines Ältesten hält der Computeringenieur für eine jugendliche Spinnerei, die allenfalls gut dafür ist, die Mutter aus einem Tief zu holen. "Könntest du einen Film von dem Campingausflug machen? Da kannst du gleich das Schneidegerät ausprobieren und deiner Mumm tut es bestimmt gut", schlägt er Sammy vor, den das allerdings nicht überzeugt.
Perfekter Film über die wunderbar unperfekte Familie
Für ihn persönlich war jahrzehntelang das Holocaust-Drama "Schindlers Liste" sein emotionalstes Werk, erzählte Steven Spielberg Ende Februar auf einer Pressekonferenz im Rahmen der Berlinale. Nachdem jedoch 2017 seine Mutter und drei Jahre später sein Vater verstorben waren und die Pandemie den Blick nach innen richtete, war er bereit dazu, mehr als sonst von sich preiszugeben.
Da wäre er also wieder: Der lebensverändernde Moment, der den Impuls auslöst, Neues zu wagen. Spielberg, dessen Schaffen seit jeher von persönlichen Aspekten wie der Scheidung seiner Eltern oder seinen jüdischen Wurzeln beeinflusst war, legt in "Die Fabelmans" seine Gefühlswelt offen. Es geht um Selbstzweifel, Angst und Wut, um Antisemitismus, das Glück der kleinen Dinge und vor allem um die Höhen und Tiefen der Liebe. Ausdruck finden sie im traurigen Lächeln des Vaters, dem entrückten Klavierspiel der Mutter, einem nächtlichen Tanz im Scheinwerferlicht eines Autos. Jeder, der sich gern in Erinnerungen verliert und Sentimentalität nicht mit Kitsch verwechselt, wird sich in diesen perfekten Film und diese wunderbar unperfekte Familie verlieben.
Die Corona-Pandemie gab den Ausschlag
Spielberg: "Meine Mutter meinte immer: Ich habe dir so unglaublich viele gute Geschichten geliefert – wann nutzt du sie endlich? Während der Pandemie musste ich daran denken. Auch das Altern und das Sterben wurden mir viel bewusster… die Angst vor der Pandemie hat mir also den Mut gegeben, meine Familiengeschichte zu erzählen."
- Zum Artikel: "Der Zeuge", "Tár": Die wichtigsten Kino-Neustarts
Video: Trailer von "Die Fabelmanns"
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