Von Zukunftsvertrauen und Optimismus könne derzeit zumindest bei der Bevölkerung der russischen Großstädte keine Rede sein, heißt es von russischen Meinungsforschern, die regelmäßig die Stimmungslage erfassen. Aktuell hätten die meisten Befragten mehr Vertrauen in sich selbst als in den Staat und planten vorsichtshalber nur maximal ein halbes Jahr im Voraus: "Für diejenigen mit stabilerem Einkommen ist eine längerfristige Planung kennzeichnend, dem steht jedoch ein hohes Maß an Verunsicherung aufgrund der außenpolitischen Faktoren gegenüber." Überwiegend werde mit einem "langen oder womöglich sogar sehr langen" Krieg gerechnet: "Einerseits wird vielfach gefordert, die Feindseligkeiten einzustellen, andererseits überwiegt in der Gesellschaft die Meinung, dass dieses Szenario in den nächsten drei bis vier Monaten nicht das wahrscheinlichste ist." Ein "erheblicher Teil der Befragten" befürchte daher eine weitere Verschlechterung ihrer Lage, auch im Hinblick auf ihren persönlichen Wohlstand. So kurz vor der Präsidentschaftswahl im März sind das für Putin ausgesprochen schlechte Neuigkeiten.
"Proteststimmung recht stark ausgeprägt"
Nur 30 bis 40 Prozent der Befragten rechne im kommenden Jahr mit einer Verbesserung der persönlichen finanziellen Situation. Rein quantitativ seien die meisten Russen zwar der Ansicht, das Land werde mit den vom Westen verhängten Sanktionen irgendwie klar kommen, Nachfragen ergäben jedoch ein anderes Bild: "Jeder ist sich der schädlichen Folgen auf die Wirtschaft bewusst." Zu den wichtigsten Faktoren für soziale Unzufriedenheit zählen die Soziologen die Inflation, speziell bei den Lebensmittelpreisen, die Gesundheits- und Wohnungssituation, sowie die Umweltpolitik: "Darüber hinaus ist Unzufriedenheit in Fragen der Unterstützung der Armen zu verzeichnen, bei denen die Proteststimmung recht stark ausgeprägt ist." In Kriegszeiten habe die Bevölkerung die Messlatte ihrer Erwartungen an lokale, regionale und landesweite Institutionen deutlich abgesenkt. Unpopuläre Entscheidungen untergeordneter Behörden könnten die Stimmung jederzeit kippen lassen.
"Russen erwarten von Putin keine Neuigkeiten"
Damit nicht genug Ungemach für den Kreml: Das Umfrageinstitut Levada meldete, dass zehn Prozent aller Befragten Putins für den 14. Dezember angekündigten "Direkten Draht", eine mehrstündige TV-Sendung, in der er publikumswirksam Fragen beantworten will, nicht anschauen wollen und weitere zwanzig Prozent keine Fragen an ihn hätten. Die übrige Bevölkerung wolle vor allem wissen, wann der Krieg ende. Für soziale Fragen interessieren sich demnach deutlich weniger Leute: acht Prozent wollten Näheres über die Zukunft der Renten erfahren, ebenso viele seien neugierig auf andere gesellschaftliche Fragen wie Wohnen und Bildung: "Die Russen erwarten von Putin keine Neuigkeiten mehr über die mögliche Verbesserung ihres Lebensstandards", hieß es dazu in einem der wichtigsten News-Blogs mit 500.000 Followern. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass immerhin sechs Prozent der Befragten wissen wollten, wann Putin endlich den Dienst quittiere.
Und noch einen "Tiefschlag" hielt die Russische Akademie der Wissenschaften für den Kreml bereit. Sie legte eine Jugendstudie vor, die auf Langzeit-Befragungen in den Jahren 2021 und 2022 beruht. Demnach wollen die Russen zwischen 14 und 35 Jahren ihren am Westen orientierten Lebensstil nicht aufgeben, schon gar nicht für eine Wiederherstellung des "Supermacht"-Status wie zu Sowjetzeiten. Gerade mal 13 Prozent der jungen Menschen könnten sich mit diesem Ziel identifizieren, hieß es, während immerhin 35 Prozent der 55- bis 65-jährigen mit der Orientierung an der Vergangenheit etwas anfangen könnten. Fast 70 Prozent der Jüngeren waren nicht bereit, ihre Konsumgewohnheiten zu ändern, etwa auf westliche Kreditkarten, Computer und Kleidung zu verzichten.
"Natürlich handelt es sich um Manipulation"
Im Krieg sei die Zahl der Optimisten in der russischen Jugend dramatisch rückläufig, sie habe sich mehr als halbiert, so Wassili Anikin vom Institut für Sozialforschung an der Moskauer Wirtschaftshochschule. Allerdings will er inzwischen eine "Stabilisierung des moralischen und psychologischen Zustands" festgestellt haben. Aufschlussreich: die vom Kreml und den rechtsradikalen "Ultra-Patrioten" aggressiv betriebene Kampagne für sogenannte "traditionelle Werte" halten nur ganze 11 Prozent der Jugendlichen für positiv, auch die Stärkung der Militärmacht halten weniger als zwanzig Prozent für vordringlich.
Kein Wunder, dass die Nationalisten toben: "Viele Menschen ziehen aus diesem Artikel den Schluss, dass Wladimir Putins Betonung traditioneller Werte ins Leere geht. In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um Manipulation", so Roman Aljechin, ein Blogger mit immerhin 110.000 Fans. Und weiter: "Diejenigen, die zumindest einigermaßen Kontakt mit der echten Tradition hatten, haben einen sehr starken Bedarf danach – das hat sich in der Praxis bewährt: Bei den Lehrern, die die echte Tradition oder besser gesagt Teile von ihr vermitteln, stehen die Schüler Schlange." Die Propaganda sei in den Schulen augenscheinlich "gescheitert", schimpft Aljechin: "Aber es gibt immer noch Möglichkeiten, die moralischen Werte neu zu justieren, indem man mit der Forderung nach Gerechtigkeit arbeitet, bei der es notwendig ist, der allgemein gültigen Gerechtigkeit den Vorzug vor der privaten zu geben. Wenn man sich jedoch all die Handlungsweisen unserer Chefs, Individualisten und Anführer betrachtet, wird gerade das Gegenteil davon getan, obwohl es in unserer Tradition um Gemeinschaft geht."
"Hingebungsvoller Eifer neuer Opportunisten"
Blogger Juri Dolgoruky (70.000 Fans) zeigte sich ebenso ungehalten. Die Jugend habe anfänglich nach Kriegsausbruch sogar ein "Hochgefühl" entwickelt, meint er, weil sie auf eine "persönliche Karriere im neuen System" gehofft habe: "Was bot ihnen das System dann? Die Debatte über ein Abtreibungsverbot, langweilige und völlig realitätsferne Gespräche über die Notwendigkeit kinderreicher Familien vor dem Hintergrund steigender Immobilienpreise und galoppierender Inflation sowie tägliche Nachrichten aus dem angeblich im Verfall begriffenen Westen, die eigentlich schon lange niemanden mehr interessieren, außer die Administratoren spezialisierter Telegrammkanäle. Fast jeden Tag zünden Ultrakonservative eine weitere Bombe in der Medienarena, mit einer weiteren archaischen Initiative, gewürzt mit Argumenten im Stil von 'Gott hat es so gewollt'. Die wenig überraschende negative Reaktion auf das Geschehen und die wachsende Angst unter jungen Menschen sind darauf zurückzuführen, dass ihre Hoffnungen auf Veränderung und den tatsächlichen Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung vom hingebungsvollen Eifer neuer Opportunisten ersetzt wurden."
Der ebenfalls nationalistische Polit-Blogger Dmitri Drise (72.000 Fans) gibt sich enttäuscht: "Es scheint, dass junge Menschen an ein gutes und unbeschwertes Leben gewöhnt sind. Insgesamt nichts Überraschendes. Der Mensch ist nun mal so ein Wesen – er gewöhnt sich schnell an gute Dinge und ist nicht immer bereit, für gemeinsame Siege zu kämpfen. Aber die entsprechenden Arbeiten sind im Gange. Der Staat hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt – in den letzten Jahren wurde der Erziehung junger Menschen im Sinne traditioneller Werte zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es werden also ein oder zwei Jahre vergehen müssen, und dann werden Sie erleben, dass sich das Ergebnis prozentual ändern wird."
"Problem wird nicht verschwinden"
Bezeichnend, dass in Russland gerade eine wild bewegte Debatte um eine neue TV-Serie tobt, die den gewalttätigen Alltag von Jugendgangs in der späten Sowjetunion zum Thema macht, mit unausgesprochenem direkten Bezug auf die Jugendgewalt der Gegenwart. Manche Politiker verlangten bereits ein Verbot von "Die Ehre der Straße [wörtlich: 'Das Wort der Jungs'] - Blut auf dem Asphalt", weil darin Gewalt verherrlicht werde und eine völlig desillusionierte, hoch aggressive Jugend gezeigt wird: "Es schmerzt wirklich in den Augen, daher der Vorstoß, die Serie zu verbieten, denn einen Lappen über einen Haufen Scheiße zu werfen, dauert im Gegensatz zur Reinigung des Augias-Stalls nur ein paar Momente. Aber selbst eine so einfache Aufgabe konnten die Behörden nicht bewältigen. Sie griffen das Publikum moralisierend an, was den Barbra-Streisand-Effekt hervorrief – jetzt wird buchstäblich jeder die Serie anschauen. Das Problem wird nicht verschwinden, aber die Behörden können sich selbst die Hände waschen – sie haben das Anschauen formell verboten, und damit Ende."
"Was bleibt? Kollegen, Sportler, Kriminelle"
Grund für den großen Erfolg und die Faszination der TV-Serie sei, dass Straßengangs und kriminelle Subkulturen in Russland bis heute die einzig verbliebene geduldete Organisationsform außerhalb staatlicher Institutionen seien, analysierte ein Beobachter mit 117.000 Fans: "In der atomisierten Gesellschaft postsowjetischer Länder ist der Mensch so vereinsamt und schutzlos, dass er angesichts der Umstände auf die Unterstützung solcher Gemeinschaften angewiesen ist. Wer könnte das sonst sein? Die eigene Familie? Die ist genauso arm dran. Außerdem sind Familien schwach und auch atomisiert. Gewerkschaften, Parteien, öffentliche Organisationen? Natürlich nicht. Der Staat eliminiert grundsätzlich jede Form der gegenseitigen Hilfe, die politische Ambitionen haben könnte. Was bleibt? Kollegen, Sportler, Kriminelle."
Ein weiterer Blogger meinte, wohl ebenfalls mit Blick auf die Gegenwart: "Tatsächlich geht es nicht um organisierte Kriminalität, sondern um deren Ursachen. Und die wichtigste ist der damals schwache Sowjetstaat, in dem eine veraltete Ideologie herrschte, die mit dem wirklichen Leben nichts gemein hatte. Ein Staat, der nicht in der Lage war, der Jugend sozialen Aufstieg zu ermöglichen und Recht und Ordnung in der Gesellschaft zu gewährleisten."
Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin reagierte auf seine Weise auf den Streit. Kinder brauchten die "harte Arbeit", sagte er in der Duma, und Mädchen könnten am ehesten auf das Erwachsenenalter vorbereitet werden, wenn man ihnen beibringe, Borschtsch zu kochen, den traditionellen russischen Eintopf mit Roter Beete und Weißkohl.
Putin: "Mama stellte mich in die Ecke"
Skurril übrigens der Auftritt Putins bei der "Allrussischen Kinder- und Jugendbewegung". Gefragt, was das prägendste Erlebnis in seiner eigenen Kindheit gewesen sei, antwortete er, das sei eine "sehr intime" Frage: "Mama stellte mich in die Ecke – ich weiß nicht mehr warum – sie ging eine Zeit lang auf und ab, blickte mich böse an und fragte dann: 'Wirst du dich wohl entschuldigen?' Ich erzähle Ihnen eins zu eins, wie diese Geschichte endete, obwohl ich manches weglassen werde. Es endete damit, dass sie anfing, mich zu küssen, mich selbst aus dieser Ecke herausholte, und das war das Ende der ganzen Geschichte."
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