Glaubt man dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot, gab es in der Mitte und im Osten Europas einmal einen riesigen See mit dem Namen Amadoka. Nur ist eben die Frage, ob man dem berühmten Chronisten aus der Antike in dieser Frage ohne Wenn und Aber trauen kann - ob es dieser See wirklich existierte. Für die ukrainische Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch ist diese Geschichte vom See ein schönes Sinnbild für die Erinnerung. Auch deshalb gab sie ihrem dreibändigen Roman-Zyklus den Titel „Amadoka-Epos“. Im ersten Band erzählt sie aus der Perspektive der Kiewer Archivarin Romana von der Geschichte und auch von der Gegenwart ihres Landes.
Ein Mensch ohne Gedächtnis und Identität
Romana begegnet den Leserinnen und Lesern von Sofia Andruchowytschs Roman gelegentlich auch etwas overdressed in einem Kiewer Krankenhaus, zu sehr geschminkt und stark parfümiert. Romana will auffallen. Vor allem mit Blick auf denjenigen, den sie ständig besucht. Er liegt in einem Zimmer mit drei weiteren Patienten, allesamt schwer verwundet im Krieg im Donbass. Romana setzt sich auf sein Bett, blickt auf sein völlig entstelltes Gesicht. Und beginnt ihm zu erzählen. Denn er kann sich an nichts erinnern – und zunächst auch nicht sprechen. Sofia Andruchowytsch erzählt in „Die Geschichte von Romana“ vom Versuch, einem Menschen die Identität zurückzugeben.
"Die Geschichte des Mannes, der im Donbass kämpft und sein Gedächtnis und alle Erinnerungen verliert, habe ich nicht erfunden", sagt die Schriftstellerin aus Kiew im BR-Interview. "Es gibt solche Fälle, wir können darüber lesen. Für mich ist das auch eine Metapher für die Erinnerung – über die Wege, uns selbst zu betrügen, im Drang zu überleben."
Wahre oder erfundene Geschichten?
Romana glaubt, dieser Mann ohne Gedächtnis (und ohne Gesicht) ist Bohdan, ihr Mann. Aber ist er es wirklich? Oder wird hier ein Mensch gründlich manipuliert? Der Roman von Sofia Andruchowytsch, Auftakt einer Trilogie über die ukrainische Gesellschaft im 20. und im frühen 21. Jahrhundert, lässt diese Frage offen. Die Schriftstellerin erzählt vom Versuch, Geschichten, von denen man glaubt, sie seien wahr, weiterzugeben – und sich daran – komme, was wolle – festzuhalten.
Entsprechend vielschichtig ist der Romantext gestaltet, immer neue Kreise werden gezogen, ausgehend von den nach Putzmittel duftenden Fluren des Kiewer Krankenhauses. Sofia Andruchowytsch erzählt dazu: "Die gebrochene Struktur – mit unterschiedlichen Genres – ist auch ein Weg, die komplizierte Geschichte der Ukraine zu verstehen, die verschiedenen Verbindungen und Einflüsse. Die Konstruktion dient dazu, den Zusammenhang finden. Und zu zeigen – auch wenn wir denken, dass etwas total voneinander getrennt ist, so gibt es trotzdem Einflüsse zwischen den einzelnen Teilen."
Eine Geschichte voller Gewalt - und vom Versuch zu überleben
Einander begegnet sind sich Bogdan und Romana in einem Kiewer Archiv. Romana arbeitet dort, Bohdan steht eines Tages in der Direktion, mit ein paar Flaschen Lambrusco und mit vier modrig miefenden Koffern voller Dokumente und Fotografien – Zeugnisse einer tatsächlich bewegten Familiengeschichte. So komisch das Aufeinandertreffen geschildert wird, so ernst sind dann die vielen Episoden, die – ausgehend von den vergilbten Dokumenten – folgen. „Die Geschichte von Romana“ reicht weit zurück in das 20. Jahrhundert, darunter zu den Verbrechen des Stalinismus und zum Zweiten Weltkrieg. Es ist eine Geschichte voller Gewalt. Und eine Geschichte über den Versuch, mit dem Erlittenen zurecht zu kommen, wie auch immer weiter zu leben.
"Es geht auch um die Familiengeschichte des Mannes, der seine Erinnerungen verloren hat", so Sofia Andruchowytsch. "Um die Geschichte seiner Großmutter, die aus einer Kleinstadt im Westen der Ukraine stammt und dort – als Jugendliche – den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie verliebt sich in einen jüdischen Jungen. Die Geschichte des Holocaust spielt damit auch eine Rolle. Und die Beziehungen zwischen Ukrainern und Juden."
Verflochtene Geschichten und Zeitebenen
Der Auftakt von Sofia Andruchowytschs „Amadoka-Epos“ gibt fortwährend Hinweise auf die folgenden beiden Romane, auch sie erzählen jeweils aus der Perspektive einer Frauenfigur. Man ahnt, wie intensiv all die Geschichten und Zeitebenen miteinander verwoben sind – wie kühn und raffiniert Sofia Andruchowytsch, die mit ihrer Familie in Kiew (und derzeit mitten im Krieg) lebt, erzählt. Sie ist die Tochter des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch.
Ihre Romanfigur Romana eignet Stück für Stück sich die Erinnerungen von Bohdan an. Und will sie ihm, da er entstellt, wie ein Monster, vor ihr liegt, zurückgeben. „Ich habe ihn erkannt“, lässt sie am Ende ihren im Lauf des Romans beträchtlich angewachsenen Facebook-Freundeskreis wissen. Sie freut sich über die vielen Likes. Und hat sich womöglich einmal mehr selbst belogen.
Sofia Andruchowytschs Roman "Die Geschichte von Romana" - Auftakt ihres "Amadoka-Epos" - ist erschienen Residenz-Verlag Salzburg, in der Übersetzung von Maria Weissenböck und Alexander Kratochvil.
Eine Lesung aus dem Roman ist am Sonntag, den 29.1., um 12.30 Uhr in den radioTexten auf Bayern 2 zu hören. Den Podcast Lesungen gibt es in der ARD-Audiothek.