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Skandal-Wissenschaft: "Erregungspotential hat zugenommen"

Es gibt tatsächlich immer mehr "Skandale", hat Medien-Experte Hans-Mathias Kepplinger herausgefunden. Die Gründe dafür werden auf einer Fachtagung der Uni Bamberg diskutiert. Sind Publikum und Medien etwa immer "empfindlicher"? Von Joana Ortmann

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Wie sich die Betroffenen verhalten, ist typisch. Die meisten begreifen nicht, wie ernst die Situation ist, sehen das nicht so dramatisch, sagen sich, das geht schon vorbei, und dann dämmert es ihnen, dass sie damit die Geschichte nicht unter Kontrolle halten können und dann kippen sie um. Und wenn Sie diese großen Anzeigen von Facebook in der Zeitung sehen, ist das genau dieses Umkippen." Hans-Matthias Kepplinger

Zumindest in einem Punkt hat sich Mark Zuckerberg in den letzten Tagen mustergültig verhalten. Als Betroffener eines Skandals hat er seine Rolle perfekt erfüllt, sagt Hans-Mathias Kepplinger, der seit Jahrzehnten die Dramaturgie in Skandalen erforscht. Und diese scheinbare Demonstration von Reue, die Zuckerberg nun an den Tag legt, kann er in fast jedem Skandal benennen:

"Nehmen sie den Videoauftritt von Winterkorn, dem Vorstandsvorsitzenden von VW bis zum damaligen Zeitpunkt, als er zugibt, dass VW Software manipuliert hat und beteuert, dass das nie mehr vorkommt. Das war ein laienhafter Auftritt, der auch noch so schülermäßig gefilmt wurde." Hans-Mathias Kepplinger

"Skeptiker haben wenig Resonanz"

Kepplinger hat hunderte Skandale analysiert und fest gestellt: sie ähneln sich frappierend – in ihrem Verlauf, aber auch in der festen Rollenverteilung der Akteure. Unabhängig davon, ob es sich um politische Skandale, Lebensmittelskandale, Sexskandale oder Datenskandale handelt.

"In einem Skandal gibt es eigentlich nur wenig originelle Wortführer. Selbst in einem großen Skandal wie dem CDU-Spendenskandal gibt es nur drei bis fünf Wortführer. Es gibt viel mehr Mitläufer - das sind Leute, die ihren Senf dazu geben, aber keine eigenen Informationen haben. Und dann gibt es welche, die in der Dokumentar-Rolle sind. Die geben gar nichts dazu, sind aber wichtig, weil sie durch ihre Wiederholung auch dem letzten klar machen: das ist ein ernster Fall. Und dann gibt es ganz wenige Skeptiker, die in den Medien wenig Resonanz haben." Hans-Matthias Kepplinger

Immer mehr "Skandale"

Woraus beziehen die Medien bei Skandalen ihre Macht? Wie gehen sie damit um? Wie hat sich das in den letzten Jahren verändert. Um diese gesellschaftlich gewachsene Dynamik besser zu verstehen, muss man einige Jahrzehnte zurück schauen. In den 1950er und 1960er Jahren schafften es in Deutschland nur etwa ein bis zwei Skandale in eine größere Öffentlichkeit. Bis Mitte der 80er waren es schon 25 bis 30 pro Jahr. In den letzten drei Jahrzehnten aber stieg die Zahl der Skandale weltweit konstant an – interessanterweise aber nur in den sogenannten entwickelten Industriestaaten.

"Zum Bespiel die Umweltskandale. Die meisten gibt es in den Ländern, in denen die Umwelt am wenigsten geschädigt ist. Die meisten Umweltschäden gibt es in den Ländern, in denen es keine Skandale gibt, in China, Indien und Südamerika. Wenn Menschen in Not sind, sind sie bereit viele Rechtsbrüche hinzunehmen, wenn es ihnen nur gut geht." Hans-Matthias Kepplinger

"Skandale sind Luxusgut"

Heißt umgekehrt: Skandale sind ein Luxusgut – mit ihnen kann man Geld verdienen, an ihnen lassen sich gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen ablesen.

"Wir haben jetzt einen Bereich, der hochgradig skandalfähig ist, und das ist Kindesmissbrauch. Ausgelöst durch Missbrauch in der Kirche und die Odenwald Schule – seit Jahren nimmt das zu. Edathy von der SPD ist ein gutes Beispiel. Was man ihm vorgeworfen hat – er hat Bilder besessen – ist bei weitem nicht so tiefgreifend wie bei Cohn-Bendit, der hat sich ganz anderer Sachen gerühmt." Hans-Matthias Kepplinger

Publikum immer "skandalempfindlicher"

An diesem Punkt kommt eine weitere Gruppe ins Spiel: Das Publikum und das jeweilige Skandal-Empfinden der Zeit.

"Das Erregungspotenzial hat erheblich zugenommen, und hier greift die Medienindustrie und die Menschen sind bereit, sich von einem Skandal zum nächsten tragen zu lassen." Hans-Matthias Kepplinger

Kritische Distanz gefragt

Wie ist diese Dynamik zu durchbrechen? Nur, wenn alle Akteure in der Skandalisierungs-Maschinerie bereit sind, ihr Verhalten zu reflektieren. Die Betroffenen, die Claqueure, die Voyeure und natürlich auch "wir Journalisten".

"Journalisten müssen und werden lernen, dass es sich auszahlt, kritische Distanz zu wahren. Meine Regel ist: wenn alle das Gleiche schreiben, ist was faul – und das stimmt fast immer." Hans-Matthias Kepplinger