Männer in Kampfmontur an einem Bildschirm
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Ungewisse Aussichten: Ukrainische Soldaten

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"Sieht alles trübe aus": Setzt Putin jetzt aufs Abwarten?

Mangels Mensch und Material muss Russland auf weitere Offensiven verzichten, sagt der prominente Militärhistoriker Ilja Moschtschanski. Die greisen Generäle orientierten sich jetzt offenbar am Feldzug von 1812, als sich Napoleon selbst erledigt habe.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Bisher sieht alles eher trübe aus. Es gibt keine aktiven Offensivaktionen, da nicht die erforderlichen Kräfte, Munition und die allgemeinen Fähigkeiten vorhanden sind", so Ilja Moschtschanski (53), einer der bekanntesten russischen Militärhistoriker, der über 200 Sachbücher verfasste. In einem aufschlussreichen Interview bilanzierte er den bisherigen Kriegsverlauf in der Ukraine und kam zu für den Kreml desaströsen Ergebnissen.

Die düstere Einschätzung scheint nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn immerhin sagte Putin persönlich in einem TV-Interview, Russland müsse noch "viel tun" für die Modernisierung seiner Bodentruppen. Immerhin gebe es Alternativen: "Wir hatten früher noch keine Hyperschallwaffen, aber jetzt haben wir sie! Ja, wir verwenden sie nicht wirklich, aber es gibt sie. Verstehen Sie? Es gibt noch andere moderne Systeme, aber 2014 [bei der Besetzung der Krim] gab es nichts Vergleichbares."

"Im Hinterland Probleme"

Mit "fünf Mobilisierungen" und der Rekrutierung von rund zwei Millionen Soldaten wäre es Russland zwar möglich, "wie auf einer Eisbahn" durch die Ukraine zu rutschen, so Moschtschanski, doch leider scheitere das an den wirtschaftlichen Umständen. In diesem Fall müsste die gesamte Wirtschaft "nur noch Munition" produzieren und der Rubel-Kurs werde zusammenbrechen. Ein US-Dollar werde dann nicht, wie jetzt, etwa 77 Rubel kosten, sondern 200: "Ja, an der Front würde es dann Siege geben, aber im Hinterland sicher Probleme. Die Führung des Landes versucht das Gleichgewicht zu halten, sie will den militärischen Konflikt nutzen, um die eigene Wirtschaft unabhängiger zu machen, wie die Vereinigten Staaten einst den Zweiten Weltkrieg nutzten, um ihre Wirtschaftskraft zu verstärken."

Damit widerspricht der Militärhistoriker den russischen Nationalisten, die seit langem fordern, die gesamte Gesellschaft zu militarisieren und den gesamten Haushalt auf die Stärkung der Rüstungsbranche auszurichten, was Putin bisher zu fürchten scheint. Jedenfalls sprach er in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation deutlich lieber von sozialen Wohltaten als vom Kriegsverlauf.

"Wir sind ziemlich im Rückstand"

In zweieinhalb Monaten habe es Russland gerade mal geschafft, "neun Dörfer und einen Bahnhof" einzunehmen, so Moschtschanski. Dabei habe die offizielle Armee nur drei Ortschaften besetzt, die übrigen seien von der Söldnerarmee "Wagner" überrannt worden. Russland habe derzeit einfach nicht das personelle Übergewicht, dass für eine durchgreifende Offensive nötig wäre. Der Fachmann berichtete von einem Fehlschlag bei Vuhledar, wo die Armee für einen Angriff eine Woche lang Munition "gespart" habe, die dann innerhalb von 24 Stunden verbraucht worden sei - viel zu früh, um damit militärische Vorteile zu erzielen.

"Wir sind ziemlich im Rückstand", meinte der Experte zum Stand von gelenkten Projektilen. Bei der Langstrecken-Artillerie gebe es eindeutig Defizite, und die Ukraine erwarte im April zahlreiche moderne neue Geschütze. Weil "niemand" einen derart langen Krieg erwartet habe, seien die Munitionsvorräte aufgebraucht.

Die Schlacht um die umkämpfte Kleinstadt Bachmut, die eigentlich schon lange beendet sein sollte, könnte nach Moschtschanskis Auffassung jetzt noch Monate andauern: "Der Feind hat hoch motiviertes Personal, aber es gibt überhaupt keine schweren Waffen, um Aktionen durchzuführen, und außerdem helfen schwere Waffen in der Stadt sowieso nicht viel. Dort gewinnt, wer mehr Durchhaltewillen hat."

Altersbedingte Defensive?

Angesichts des vorgerückten Alters der russischen Armeeführung glaubt Moschtschanski, dass sich die Generäle inzwischen bei der Lösung der angesprochenen Probleme an der Strategie des Feldzugs von 1812 gegen Napoleon orientieren. Damals leitete Generalfeldmarschall Michail Illarionowitsch Kutusow (1745 -1813) die Geschicke der russischen Truppen. Er war zum Zeitpunkt des Kriegs ebenso alt, wie der jetzige Generalstabschef Waleri Gerassimow, nämlich 67: "Kutusow entschied sich gerade wegen seines Alters für eine Defensivtaktik, wich Schlachten aus, und die Franzosen verrotteten auf unserem Territorium von selbst und flohen dann. Als unsere Truppen ihnen folgten, sagte Kutusow wörtlich: 'Ja, ich würde der Person ins Gesicht spucken, die sagt, dass ich der Befreier des Landes von Bonaparte wäre!' - und er weigerte sich abermals, [den Fliehenden] nachzusetzen."

Tatsächlich musste sich Kutusow damals bittere Vorwürfe des Zaren und anderer Führungskräfte gefallen lassen, die deutlich mehr Kampfgeist und Offensiven erwartet hatten. Das lässt sich übrigens in Leo Tolstois Roman "Krieg und Frieden" nachlesen. Moschtschanski nimmt an, dass die heutigen Verantwortlichen in der Armee insgeheim darauf hofften, dass sich die Ukraine quasi selbst erledigt, zermürbt von "ständigem Druck" mit "minimalem Mitteleinsatz".

Die Unversöhnlichkeit im derzeitigen Konflikt erklärt der Fachmann mit innerrussischen Probleme: "Tatsächlich ist der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ein verspäteter Bürgerkrieg. Deshalb zeichnet er sich durch eine solche Unnachgiebigkeit aus, denn unter unseren Gegnern gibt es viele Russen. Den Kern der Streitkräfte der Ukraine machen genau die Russen aus, die für die jetzige Ukraine kämpfen."

Vergleich mit Sparta und Athen

Gefragt, wie wahrscheinlich eine Offensive der Ukraine im Frühjahr ist, antwortete Moschtschanski: "Es ist schwer, einen Elefanten zu beurteilen, wenn man ihn von weitem durch ein Fernglas betrachtet und Facharzt für Allgemeinmedizin ist." Letztlich werde der Krieg erst beendet, so der Vielschreiber, wenn Russland die USA besiegt habe: "Achtzig Jahre lang gab es eine Konfrontation zwischen Sparta und Athen um die Vorherrschaft im antiken Griechenland, beide Länder befanden sich in einer extrem gegensätzlichen Position. Bis die Spartaner mit dem Geld der Perser eine Flotte bauten und die Schiffe Athens zerstörten, gab es keinen Wendepunkt."

"Dann flogen die schwarzen Krähen"

Im Netz wurde rege über Moschtschanskis Ansichten gestritten. Es gab Kommentatoren, die die jetzige Lage an der Front eher mit 1916 als mit 1812 verglichen. Nach dem Scheitern der Brussilow-Offensive im Ersten Weltkrieg war das Zarenreich ausgelaugt und taumelte der Revolution entgegen, womit die Niederlage besiegelt wurde. Andere machten sich darüber lustig, dass Moschtschanski sich vorstellen kann, die USA über Alaska anzugreifen: "Er hat scheinbar Kanada übersehen." Es gab auch Hinweise auf das militärische Debakel Russlands in Afghanistan von 1979 bis 1989: "Zuerst schien es damals auch, dass das Unternehmen in ein oder zwei Monaten enden würde. Und dann flogen jeden Tag die 'schwarzen Krähen'."

Ein besonders informierter Diskutant verwies darauf, dass Russland nach allen wichtigen Vergleichswerten der Weltbank auf dem Niveau von Entwicklungsländern liege, bei der Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel auf Platz 157 zwischen Bangladesch und Pakistan, bei der politischen Stabilität auf Platz 174 zwischen Indonesien und Ägypten: "Wenn unser Land in Bezug auf die Qualität der öffentlichen Verwaltung seit mehr als zwanzig Jahren irgendwo um Platz 200 in der Welt rangiert, warum sollte es dann im militärischen Bereich anders sein?"

"Taktische Erfolge, strategische Niederlage"

Der bekannte rechtsextreme Blogger Igor Strelkow zählte neulich zwölf Gründe auf, warum Russland den Krieg verlieren werde. Einer davon sei das seiner Meinung nach überflüssige Eingreifen in Syrien, wo im Kampf gegen Islamisten wertvolle Munition verschleudert worden sei. Zur Lage an der Front meinte Strelkow zusammenfassend: "Es gibt taktische Erfolge, aber strategisch eine Niederlage. Ganz einfach deshalb, weil unsere Kampfhandlungen 'nach den Regeln' des sich verteidigenden Gegners geführt werden, der sich bewusst für die Defensive entschieden hat, um Zeit zu gewinnen und (für die Zukunft) Ressourcen zu sparen." Ironisch bemerkte Strelkow, dass Putins "Einschiffung nach Den Haag" zum dortigen Internationalen Strafgerichtshof wohl unvermeidlich sei.

Blogger Alexander Chodakowski (630.000 Follower) bangt ebenfalls: "Das Gefühl einer über uns hängenden Lawine liegt in der Luft. Sind wir bereit für die kommenden Ereignisse? Schwer zu sagen. Mir scheint, dass wir unseren bitteren Kelch noch nicht ausgetrunken haben – aber immerhin sitzen wir nicht rum und sind nicht untätig."

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow, der ansonsten jede bizarre Verschwörungstheorie von Putin unterstützt, wagte es jetzt, die neuesten Aussagen des Präsidenten zu kritisieren. Putin hatte behauptet, er habe 2014 die Ukraine noch nicht angreifen können, weil Russland damals militärisch zu schwach gewesen sei: "Ja, die russische Armee ist stärker geworden. Aber die Armee der Ukraine ist um ein Vielfaches stärker geworden. Deshalb ist alles so blutig", so Markow. Außerdem zweifelte er offen Putins Behauptung an, Russland habe damals an eine "friedliche" Lösung geglaubt.

Prigoschin: "Seifenblasen zerplatzen"

Söldnerführer Prigoschin macht sich zum Jahrestag seines Eingreifens in der Ukraine nicht die Mühe, Optimismus zu verbreiten: "Im Moment sind die Aussichten düster. Ich habe bereits gesagt: Wir müssen alle Seifenblasen, die wir in großer Zahl steigen ließen, zerplatzen lassen. Wir müssen uns auf eine Sache konzentrieren – auf das Gewinnen, was bedeutet, an vorderster Front zu stehen, voranzukommen, Meinungsverschiedenheiten, Ressentiments und alles andere hinter uns zu lassen. Unterdessen gibt es leider Intrigen, Duelle und Bremsversuche, sie stören den Kampf." Ein "paar Wochen" habe Russland noch Zeit, seine Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen: "Wenn wir das nicht machen, wird es zu spät sein, mit Bordschomi [georgischem Mineralwasser] anzustoßen."

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