Nach einem Gefangenenaustausch mit der Ukraine
Bildrechte: Sergej Karpukhin/Picture Alliance

Russische Militärpolizisten stützen einen erschöpften Soldaten

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"Sie brauchen eine Pause": Will Putin einen Waffenstillstand?

Offenbar von der Kreml-Propaganda gefördert, wird in russischen Medien vielstimmig über eine Feuerpause spekuliert. Die allerdings nutze derzeit nur den Russen, behaupten ukrainische Experten. An taktisch gestreuten Gerüchten mangelt es nicht.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Die "Zeit für Witze" sei vorbei, schrieb Söldnerführer Jewgeni Prigoschin kürzlich auf seinem Telegram-Kanal und "Mama" werde auch nicht kommen, um Russland wie einem ertrinkenden Buben zu helfen. Das sollte wohl alarmierend klingen. Noch sei es für eine ukrainische Offensive wegen des vielen Regens im Donbass zu schlammig, so Prigoschin, doch schon bald werde der Boden trocknen: "Sie werden kommen und versuchen, uns auseinander zu reißen und wir müssen uns dagegen wehren." Konkret forderte der Söldnerchef, Russland müsse sich so tief eingraben, dass der Gegner schon seine "Krallen ausfahren" müsse, um einzelne Stücke des besetzten Territoriums zurückzuerobern.

"Selbst auf das Risiko einer Niederlage"

Das interpretierten Experten des amerikanischen "Institute for the Study of War" als Aufforderung an Putin, alle Offensiven einzustellen und auf die Verteidigung des Erreichten zu setzen. Die Wortwahl von Prigoschin sei "bemerkenswert". Dabei sei der zwielichtige "Wagner"-Boss keineswegs für Verhandlungen oder einen Waffenstillstand. "Er argumentiert, dass eine Pause bis zum Höhepunkt des [erwarteten] ukrainischen Angriffs Russland ermöglichen würde, seine Kampfkraft zurückzugewinnen und innerhalb der russischen Gesellschaft nationalistische Unterstützung für die Wiederaufnahme des Kampfes aufzubauen, selbst auf das Risiko einer Niederlage hin", so die US-Analysten. Auch die reguläre russische Armeeführung bemühe sich derzeit wohl, Putin zur Defensive zu überreden, sei aber "möglicherweise nicht in der Lage", ihm diese Botschaft "unverblümt zu übermitteln".

Direkt gefragt nach diesen Spekulationen, schrieb Prigoschin: "Eine große Anzahl von Fälschungen wird in den Raum geworfen, und das ist eine davon. Ich werde keine Munition für meine Jungs aufgeben, nicht mal für die Freundschaft mit dem Herrgott."

"Russland wird Zeit für sich nutzen"

Gleichwohl sind bei den Militärbloggern und auf den politischen Klatschkanälen allerlei unbelegte Behauptungen zu lesen, wonach Putin seinem engsten Kreis kürzlich vorgeschlagen habe, propagandistisch "von möglichen Misserfolgen an der Front abzulenken" und "vorübergehend einen Waffenstillstand anzustreben". Armee und Geheimdienst sollten ihm dazu "detaillierte Pläne zur Umsetzung" übermitteln. Der Präsident habe seine Gesprächspartner dann unvermittelt stehen gelassen, um diesen "brillanten Plan zu verdauen".

Jetzt schlägt die Stunde der "Geisterseher", die angesichts ausbleibender militärischer Durchbrüche aus vagen öffentlichen Äußerungen den weiteren Kriegsverlauf vorhersagen wollen. Das ist dann eher eine feuilletonistische als eine politische Aufgabe, geht es doch darum, in scheinbar leeren Worten einen - möglicherweise nicht vorhandenen - tieferen Sinn zu suchen.

Auffällig ist jedenfalls, wie regelmäßig neuerdings der Begriff "Waffenstillstand" in den russischen Medien auftaucht. Propagandist und Politologe Sergej Markow rechnet nach eigener Aussage spätestens "bis Ende des Jahres" mit einer Feuerpause - und dem NATO-Beitritt der Ukraine. Die auflagenstarke russische Zeitung "Moskowski Komsomlez" (MK) bewertete auf der Titelseite die "Chancen für einen Waffenstillstand in diesem Jahr". Dort sagte Markow: "Russland kann dem Einfrieren der Feindseligkeiten zustimmen, die die Vereinigten Staaten in diesem Herbst arrangieren wollen. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass der Westen eine derartige Zeit genutzt hat, um das Kiewer Regime zu stärken. Jetzt wird Russland versuchen, diese Zeit für sich selbst zu nutzen."

"Für Russland unrentabel und unakzeptabel"

Der ukrainische Militärexperte Jewhen Dyky sagte dem im Ausland erscheinenden russischsprachigen Portal "Currenttime" etwa gleichlautend: "Es ist für uns absolut offensichtlich, dass die sogenannte koreanische Option, das heißt das Einfrieren des Konflikts entlang der aktuellen Frontlinie, jetzt nur für Russland von Vorteil ist. Sie brauchen es dringend. Sie brauchen eine lange Pause, idealerweise etwa sechs Monate, um eine neue Mobilisierungswelle durchzuführen und die Verteidigungsindustrie, die durch die Sanktionen sehr ausgebremst wurde, irgendwie wieder in Gang zu bringen."

Dagegen wird der russische Politologe Alexei Zudin von "MK" mit den Worten zitiert: "Die Einstellung der Feindseligkeiten ist nur unter Bedingungen möglich, die von Russland im Voraus öffentlich bekannt gegeben wurden. Jede Atempause wird genutzt, um das militärische Potenzial des Kiewer Regimes zu stärken und die NATO-Staaten in die Kämpfe einzubeziehen. Jedenfalls ist diese Art von Waffenstillstand für Russland unrentabel und inakzeptabel."

"Druck für Verhandlungen unwiderstehlich"

Erstaunlich, dass russische Medien das Thema "Waffenstillstand" lautstark "über Bande" spielen, nämlich dadurch, dass sie westliche Kolumnisten zu Wort kommen lassen, die erfahren haben wollen, dass die USA die Ukraine erst für eine Offensive aufrüsten wollen, um dann, nach erhofften territorialen Erfolgen, möglichst schnell zu einer Feuerpause zu kommen. So werden der "Guardian"-Journalist Simon Tisdall und die Kolumnistin des italienischen "Il Messaggero", Christiana Mangani, mit ihren aktuellen Analysen ausführlich zitiert. Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS titelte mit Blick auf diese Meinungsbeiträge sogar, der Waffenstillstand "komme näher".

Tisdall hatte in seinem Essay behauptet: "Es ist klar, dass die ukrainische Führung nur wenige Monate Zeit hat, um die Russen zurückzuschlagen, bevor der bisher weitgehend stillschweigende, aber wachsende internationale Druck zur Aufnahme von Verhandlungen – ob sie es will oder nicht – offenkundig und potenziell unwiderstehlich wird." Das habe auch mit dem bevorstehenden amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zu tun, Putin müsse nur abwarten, so Tisdall, nicht etwa "nachgeben".

Weiter hieß es: "Ist ein fauler Kompromiss unvermeidbar? Nein. Theoretisch könnten beide Seiten noch einen entscheidenden Sieg erringen. Aber viel wahrscheinlicher ist, wenn es keine Einigung gibt, eine blutige, kostspielige Pattsituation geringer Intensität, die sich über Jahre hinzieht."

Lawrow: "Schizophrene Logik"

Putins enger Verbündeter Alexander Lukaschenko, der autoritäre Herrscher über Belarus, hatte bereits Ende März Verhandlungen und einen "Waffenstillstand" gefordert. Dagegen sprach der russische Außenminister Sergej Lawrow von einer "schizophrenen Logik", ausgerechnet nach einer erwarteten ukrainische Offensive Verhandlungen aufzunehmen: "Wenn wir zu Verhandlungen gedrängt werden, dann erinnere ich mich nicht, dass mindestens einer unserer westlichen Kollegen und aus einer Reihe anderer Staaten die Ukraine ebenfalls zu Verhandlungen aufgerufen hat. Und wahrscheinlich steckt eine eigene hausgemachte Wahrheit dahinter, denn die Ukraine wird aufgerüstet, um den Krieg fortzusetzen." Allerdings ergänzte Lawrow, Russland habe Verhandlungen "nie abgelehnt, wenn sie ernst gemeint" sein sollten.

Das alles wirkt so, als ob die Kriegsparteien intern längst erkannt haben, dass keine Seite mittelfristig bedeutsame Vorteile erreichen kann und eine irgendwie geartete Gefechtspause daher kurzfristig die naheliegendste Lösung wäre. Putin sieht sich allerdings massivem Druck der Ultranationalisten ausgesetzt, die ganz offen über eine Ära "nach ihm" diskutieren und "legal" an die Macht kommen wollen. Rechtsaußen Georgi Fedorow lehnt den aus seiner Sicht viel zu laschen Putin-Kurs "grundsätzlich" ab und schrieb: "Es ist notwendig, dass unsere Idee in der breiten Masse wirklich populär wird. Dann wird der politische Wille dieser Massen in eine konkrete Form gebracht. Dann wird es eine Transformation des politischen Systems geben."

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