Noch hält der russische Parlamentsabgeordnete Oleg Matweischew die Lage in seinem Land für "nicht so kritisch", doch 2023 könne "sehr gefährlich" werden für das Regime. Grund dafür ist seiner Meinung nach eine Bedrohung des Regimes von rechts. In einem Interview verwies der Putin-Anhänger von der mitgliederstärksten Partei "Einiges Russland" auf den naheliegendsten Weg, die Leute aufzustacheln: Mit einer Mischung aus Turbo-Patriotismus, Sowjet-Folklore ("Linksextremismus") und lautstarker Kritik an korrupten Beamten. Die "Liberalen" seien dagegen fast alle ins Ausland geflüchtet und die Kommunisten hätten sich weitgehend mit den bestehenden Verhältnissen arrangiert.
Im Nachhinein versuchte Matweischew, seine Worte zu relativieren, wohl irritiert von ihrer Wirkung: "Der Westen hat alles getan, um Russland zu vereinen. Und mehr noch, niemand hat Angst vor den Patrioten, weder vor den Ultras noch vor den anderen. Heute sind wir alle Patrioten, und wir sind alle Ultra-Patrioten, alle für den Sieg, und besonders diejenigen, die diesen Sieg jetzt mit Waffen in der Hand erringen. Sie sind unsere Helden!"
"Letzte chinesische Warnung"
Mit seinen als Warnung vor der radikalen Rechten verstandenen Äußerungen löste Matweischew innerhalb und außerhalb Russlands jedenfalls ein großes Medienecho aus. Politikwissenschaftler fragen sich, ob das Interview des eher unbekannten Putin-Fans eine verschlüsselte Botschaft des Kreml an seine nationalistischen Kritiker ist. Immerhin sprach Matweischew von "Hysterie" unter den Ultra-Patrioten und fürchtete in ihren Kreisen eine Eskalation, wenn die russische Armee irgendwo noch einmal zurückweichen müsse. Ein anderer Abgeordneter der Staatsduma, Jewgeni Fjodorow, hatte sogar vorgeschlagen, "Listen" mit den Namen von potentiell gefährlichen Ultra-Patrioten anzufertigen, was ihm aus dem "vaterländischen Lager" Hohn und Spott bescherte.
Abbas Galljamow, früher mal einer von Putins Redenschreiber und jetzt meinungsstarker Kreml-Experte, nannte den Abgeordneten Matweischew ein "Sprachrohr" Putins: "Im Allgemeinen gehen Warnungen, es rieche nach einem Maidan-Aufstand, in Russland normalerweise Repressionen voraus. Es scheint, dass die Zeit für die 'Patrioten' gekommen ist. Jedenfalls wurde ihnen [damit] die letzte chinesische Warnung zugestellt."
"Wer schlau ist, rennt weg"
In der im Ausland erscheinenden "Nowaja Gazeta Europe" behauptet Sozialforscherin Julia Latynina, rund 35 Prozent der russischen Bevölkerung seien vorbehaltlos für den Krieg und teilten Putins Ansichten. Gleichwohl seien diese Menschen keineswegs allesamt "Ultra-Patrioten", denn die wenigsten von ihnen meldeten sich freiwillig zum Fronteinsatz: "Wer schlau ist, der rennt weg. In Putins imperialer Parodie sind nur die Leichen echt, die Begeisterung ist falsch und existiert wie Putins Wunderkinder nur auf dem Fernsehbildschirm. Es ist eine einzigartige Situation in der Weltgeschichte, dass es so wenig Enthusiasmus für eine so totale Propaganda gibt."
Lalynina nennt als Beleg für ihre These die aktuellen Meinungsumfragen des Kreml, aber auch die Tatsache, dass Putin massenweise Strafgefangene rekrutieren lässt, was wohl kaum nötig wäre, wenn all die Nationalisten an die Front gingen. Neuerdings wird im russischen Parlament darüber diskutiert, Arbeitslose zu mobilisieren, unter denen doch lauter "junge, kräftige Männer" seien.
"Starker patriotischer Impuls"
Die Wortführer der unzufriedenen Rechten reagierten in ihren Telegram-Kanälen sofort, ein Zeichen dafür, dass die "Warnung" auf jeden Fall angekommen ist. Der Angriffskrieg auf die Ukraine habe in ihren Kreisen "einen starken patriotischen Impuls" ausgelöst und "neue große Erwartungen" geweckt, wie überhaupt der ganze "russische Frühling" nach der Besetzung der Krim im Jahr 2014, heißt es bei einem der Angesprochenen: "Die anschließenden Rückzüge und Niederlagen im Herbst provozierten abermalige Enttäuschungen, Ängste vor einem neuen Minsker Abkommen oder sogar einem neuen Chassawjurt [dem Ort, wo Russlands Niederlage im ersten Tschetschenienkrieg besiegelt wurde]." Natürlich gebe es Kriegsbefürworter, die gegen "jegliche Abmachungen" mit der Ukraine seien.
Einer der entschiedensten Kreml-Kritiker von rechts, Igor Strelkow, wetterte sogar, der erwähnte Abgeordnete und Putin-Parteigänger Matweischew sei ein "Betrüger und Dieb" und habe "zu Recht Angst": "Wir werden sicherlich versuchen, sie zur Verantwortung zu ziehen." Und damit nicht genug: Strelkow warf Putin persönlich vor, die Sicherheit der russischen Grenzregionen nicht mehr garantieren zu können. Gerade eben seien wieder ein Tanklager und eine Stahlbrücke von ukrainischen Raketen zerstört worden. Hauptvorwurf gegen den Präsidenten: Er scheue sich, Untergebene zur Verantwortung zu ziehen. Allerdings lehnte auch Strelkow Einladungen an die Front dankend ab. Ein mehrwöchiger Aufenthalt bei Kampfeinheiten verlief angeblich eher frustrierend für alle Beteiligten.
"Toller Ansatz"
"Jetzt müssen die Patrioten als Feinde niedergeschrieben werden. Toller Ansatz", regt sich ein weiterer Blogger mit 400.000 Followern auf: "Mit anderen Worten, jeder, der will, dass Russland gewinnt, ist jetzt ein Feind." Zwar sei er sicher, dass die Kritik von Matweischew nur von diesem persönlich komme, doch es "lohne sich", auf derartige Äußerungen zu achten, so der Nationalist. "Die Bedrohung für den Staat sind korrupte Beamte, Idioten, Betrüger, Feiglinge und gierige Mittelmäßigkeit, die jede politische Situation ausnutzen", meldete sich ein weiterer "Patriot" unwirsch zu Wort. Ein weiterer schmähte Matweischew als Mann mit "großem Verstand" und "unerfüllten Sehnsüchten".
"Alles funktioniert reibungslos"
Weiteste Verbreitung fand die Wortmeldung eines Bloggers, wonach es an der Front unter den russischen Soldaten "brodelt": "In den Augen der Führung ist alles in Ordnung, es fließt Honig, es gibt Kekse und rosa Einhörner, der Feind macht seinen letzten Atemzug. Alles funktioniert reibunglos. Diese Illusion wird von Leuten gefördert, die selbst aufsteigen wollen, sie konzentrieren sich nur darauf." Inspektoren interessierten sich nicht für den desolaten Zustand der Waffen und der Munitionsvorräte, sondern mehr für "saubere Bettwäsche" und "blank polierte Schuhe". Bei diesem Verhalten sei es kein Wunder, dass viele Soldaten nur noch weg wollten.
Derweil wurde ein enger Mitarbeiter des rechtsextremen Söldnerführers und Behörden-Kritikers Jewgeni Prigoschin ("Gruppe Wagner") unter ungeklärten Umständen aus kürzester Entfernung angeschossen und dabei schwer verletzt, angeblich an einem "Kontrollpunkt". Nationalisten sprachen in ihren Telegram-Kanälen bereits von einem "Mordversuch" und forderten ein Ermittlungsverfahren.
"Das wäre Selbstmord"
Wenig erbaulich sind für Russlands Rechte auch Nachrichten aus dem Verteidigungsministerium, wonach die Experten dort eine neue Offensive mangels Soldaten, Ausrüstung und Munition äußerst skeptisch sehen: "Pläne, wieder nach Kiew zu vorzurücken, sind wirklich gezeichnet, aber nur, weil die Führung des Landes es verlangt. Niemand glaubt an die Umsetzung dieser Pläne, das wäre Selbstmord", wird ein Insider vom gewöhnlich gut informierten Exil-Portal "Istories" zitiert.
Politologe Alexej Moschkow, um verwegene Prognosen nicht verlegen, sagt bereits voraus, dass der Stern von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin und seinen rechtsextremen Gesinnungsgenossen sinke: "Die Tatsache, dass er als [möglicher] Nachfolger Putins bezeichnet wurde, deutet mehr als beredt darauf hin, dass er keiner sein wird." Der Unruhestifter und Kriegsunternehmer habe "viele geärgert", die entsprechend schlecht schliefen. Außerdem seien die Verluste der "Gruppe Wagner" derart groß, dass diese "nicht mit einem Fingerschnippen" ausgeglichen werden könnten, was den Einfluss von Prigoschin ebenfalls schmälere.
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