Damit befeuerte JJ alias Johannes Pietsch die aufgeregte Debatte um Israels Teilnahme am ESC – und handelte sich viel Widerspruch ein. In einem Gespräch mit der spanischen Zeitung "El Pais" [externer Link] sagte er: "Es ist sehr enttäuschend, dass Israel noch am Wettbewerb teilnimmt. Ich würde mir wünschen, dass der Eurovision Song Contest nächstes Jahr in Wien stattfindet, ohne Israel. Aber der Ball liegt nun bei der EBU [dem Veranstalter des Wettbewerbs]. Wir Künstler können uns nur dazu äußern."
In einem Radio-Interview mit dem WDR wollte sich JJ nicht weiter zu seinem Interview mit "El Pais" äußern. Auf eine Nachfrage der österreichischen Nachrichtenagentur APA rückte der ESC-Gewinner schließlich von seinen Äußerungen in "El Pais" ab: "Es tut mir leid, falls meine Worte missverstanden wurden. Obwohl ich die israelische Regierung kritisiere, verurteile ich jegliche Form von Gewalt gegen Zivilisten überall auf der Welt – sei es gegen Israelis oder Palästinenser."
Am Rande des ESC hatte es wegen des Vorgehens der israelischen Regierung in Gaza heftige Kritik am Auftritt der Sängerin Yuval Raphael ("New Day Will Rise") gegeben. Sie ist eine Überlebende des Terroranschlags der Hamas auf das Nova-Musikfestival am 7. Oktober 2023.
Yuval Raphael: "Kleine Sekunde Frieden schenken"
Die Sängerin selbst hatte im Vorfeld des Finales kaum Interviews gegeben. Der "Neuen Zürcher Zeitung" [externer Link] gegenüber vermied sie jegliche politische Äußerung und hatte es diesbezüglich bei einem Satz belassen: "Bevor wir das Interview beenden, möchte ich noch etwas sagen: Alle Geiseln müssen nach Hause kommen. Jetzt." Der "Times of Israel" sagte Raphael nach dem Finale [externer Link]: "Ich wollte diesem Land nur Ehre und Stolz einbringen, es stolz machen, ihm inmitten all des Wahnsinns eine kleine Sekunde Frieden schenken."
Bei der Gelegenheit lobte die Sängerin ausdrücklich ihren Konkurrenten JJ: "Er hat eine unglaubliche Stimme. Er hat extrem hart gearbeitet, ich bin sehr stolz auf ihn. Er hat es verdient."
Medienanwalt: "JJ nachträglich disqualifizieren"
Die Reaktionen auf JJs Israel-Kritik waren höchst widersprüchlich. Der prominente Kölner Medienanwalt Ralf Höcker schrieb auf X (vormals Twitter): "Ich wünsche mir, dass der Eurovision Song Contest nächstes Jahr in Tel Aviv stattfindet – ohne den nachträglich zu disqualifizierenden Antisemiten JJ." Laut Statuten dürften ESC-Teilnehmer den Wettbewerb nicht als Plattform für politische Propaganda missbrauchen, fügte Höcker gegenüber der "Berliner Zeitung" an [externer Link].
"Europa wird immer konservativer"
JJ (Siegertitel "Wasted Love") kritisierte die ESC-Organisatoren, weil sie den Wettbewerb "unpolitisch" halten wollten: "Europa erlebt einen Rückschlag. Ich habe versucht, während des Finales eine LGBTQ+-Flagge hineinzuschmuggeln, aber die Organisatoren haben mich in letzter Minute erwischt."
Er werde den ESC nutzen, um für die Rechte der queeren Community einzutreten und für mehr Gleichberechtigung zu sorgen, so Pietsch: "Wir sind immer noch mit einem großen Stigma behaftet, und leider wird Europa immer konservativer und macht Rückschritte. Das ist sehr, sehr enttäuschend, und es muss etwas dagegen unternommen werden."
"Mehr Transparenz beim Tele-Voting"
Der Sänger schließt sich der verbreiteten Kritik am diesjährigen Abstimmungsverfahren an. Aus mehreren Ländern, darunter Spanien und Belgien, waren Zweifel aufgekommen, ob das Zuschauer-Voting verlässlich ist. Zwar ging es dabei nicht um etwaige technische Manipulationen der Abstimmung selbst, wohl aber um die mögliche Beeinflussung des Publikums durch die Schlagzeilen um den Gaza-Krieg: "Es sollte mehr Transparenz beim Tele-Voting geben. Dieses Jahr war alles sehr seltsam", so Pietsch.
"Ich liebe gutes Drama"
Das spanische Staatsfernsehen und ein flämischer Sender hatten sich sehr besorgt über die Punktevergabe geäußert. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte sich gegen Israels Teilnahme beim ESC ausgesprochen und eine "Doppelmoral" kritisiert, weil Russland wegen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine auch nicht mehr antreten darf.
Israels Beitrag kam bei den internationalen Jurys mit insgesamt 60 Punkten vergleichsweise schlecht weg, während die Zuschauer aus zahlreichen Ländern die Höchstnote vergaben, weshalb Yuval Raphael bis kurz vor Ende der Live-Übertragung auf Platz 1 lag und dann doch noch von JJ überholt wurde, der beim TV-Publikum deutlich schlechter wegkam als bei den Fachleuten.
ESC-Direktor Martin Green hatte zur Kritik am Voting geäußert: "Jetzt, da die Veranstaltung vorbei ist, werden wir umfangreiche Diskussionen mit den teilnehmenden Sendern führen, über alle Aspekte des diesjährigen Wettbewerbs nachdenken und Feedback sammeln. Das wird in die Planungen des 70. ESC im kommenden Jahr einfließen."
Als Sohn eines österreichischen Vaters und einer philippinischen Mutter wuchs der Countertenor JJ in Dubai auf, absolvierte seine musikalische Ausbildung jedoch in Wien, auch an der dortigen Staatsoper. Dort habe er sich in die Kunstform Oper vernarrt, als er mit 16 zum ersten Mal Puccinis "Tosca" gesehen habe: "Ich war während der gesamten Vorstellung aufgeregt und fasziniert. Und ich liebe ein gutes Drama … im positiven Sinne."
"Kann nur in die Hose gehen"
In den österreichischen Medien löste JJ mit seinem Interview erregte Diskussionen mit sehr gegensätzlichen Stellungnahmen aus. "Meine Sympathie ist komplett weg", hieß es zum Beispiel in einem der mehreren tausend Leser-Kommentare in der auflagenstarken Kronen-Zeitung [externer Link]. An derselben Stelle hieß es jedoch auch: "Er erlaubt sich eine freie Meinungsäußerung. Das sollte in einer Demokratie möglich sein." Ein weiterer Leser meinte: "Er soll sich aufs Singen konzentrieren und sich nicht politisch äußern oder Position beziehen."
So mancher sah einen "Shitstorm" aufziehen und fürchtete um JJs weitere Karriere: "Leider etwas ungeschickt. Es wäre besser, sich hier diplomatischer zu verhalten und nichts zum Thema Politik zu sagen. Das kann nur in die Hose gehen."
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