Der völlig überraschend auftauchende "Schwarze Schwan" ist ja seit dem gleichnamigen Buch des Statistikers Nassim Nicholas Taleb über die "Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse" der Inbegriff einer plötzlichen Katastrophe. Genau die schließen russische Militärblogger in der andauernden Schlacht um Bachmut nicht mehr aus. Ja sie rechnen sogar mit einem "Grünen Schwan", der noch verhängnisvoller sei, weil mit ihm nicht nur "seltene", sondern sogar "undenkbare" Ereignisse verbunden seien: "Je unglaublicher, desto albtraumhafter." Gemeint ist damit eine Niederlage der Söldnerarmee "Wagner", die derzeit verlustreiche Angriffe auf Bachmut durchführt.
"Dann sind wir alle am Arsch"
Jewgeni Prigoschin, der Chef der Truppe, gab persönlich die düstere Tonlage vor: "Ich klopfe an alle Türen, schlage Alarm und bitte um Munition und Verstärkung, damit wir unsere gefährdeten Flanken abdecken können." Wenn das gelinge, werde seine Privatarmee Bachmut einkesseln und die dortigen ukrainischen Soldaten besiegen können, andernfalls seien "alle am Arsch". Vorerst freilich scheint Prigoschin nicht die Unterstützung bekommen zu haben, die er sich vom russischen Verteidigungsministerium erwartet. Nach eigener Aussage wurde sein Emissär aus dem Hauptquartier rausgeworfen: "Pfeifen Sie ihm hinterher, wenn Sie ihn treffen sollten."
Direkt an Verteidigungsminister Schoigu gerichtet, schrieb Prigoschin, es sei immer heikel, das Fell eines Bären zu verteilen, bevor er getötet worden sei. In Bachmut seien derzeit "12.000 bis 20.000" ukrainische Soldaten. Diese kurzfristig zu besiegen, sei wohl nur aus der Perspektive der "Gedärme des Generalstabs" möglich. Waffen habe er nicht bekommen, so Prigoschin, dafür allerdings Schaufeln - nach einem Monat. Und was die Ukrainer betrifft, war von ihm zu lesen: "Hört auf, sie Feiglinge zu nennen." Eine "Säuberung" von Bachmut lehnte er sarkastisch ab: "Wir werden nicht die Straßen fegen."
Natürlich muss Prigoschin derart grelle Botschaften nach Moskau senden, um überhaupt Gehör zu finden. Der demonstrative Pessimismus ist also in erster Linie Taktik. Gleichwohl zeigen sich auch seriöse russische Beobachter beunruhigt über die Vorgänge an der Front. Politologe Sergej Markow glaubt, dass in Bachmut nicht nur Ukrainer gegen Russen kämpfen, sondern das 21. Jahrhundert mit dem 20. Jahrhundert, wie er es formuliert. Der Ukraine gehe es ganz modern um "Heldentum", Politik und Symbole, Russland halte sich demgegenüber an die Kampftaktiken der Vergangenheit. Zu "großen Offensiven" sei Moskau ohnehin nicht mehr fähig.
"Ohne Hilfe kann die Front zusammenbrechen"
Im Übrigen versuche Kiew, die Meinungsverschiedenheiten zwischen der offiziellen russischen Armee und Prigoschins Söldnern auszunutzen: "Es nähern sich kritische Tage." Das Dauerlamento des "Wagner"-Chefs, wonach es in Moskau eine "Verschwörung" gegen ihn gebe, sei allerdings unsinnig: "Es gibt keinen Verrat, aber Fehler passieren überall." Nicht gerade zuversichtlich klingt Markows Resümee: "Prigoschin glaubt, dass er angesichts des Drucks der Streitkräfte der Ukraine die Hilfe der regulären russischen Armee benötigt. Wenn keine Hilfe kommt, kann die russische Front zusammenbrechen. Wenn es Hilfe gibt, könnte der russische Sieg bei Bachmut umso durchschlagender sein."
"Es wird enden wie bei Manstein"
Kundige russische Fachleute wollten schon eine ukrainische "Gegenoffensive" ausgemacht haben, die sie prompt mit der Schlacht bei Charkow im Februar/März 1943 verglichen. Damals gelang es der deutschen Wehrmacht unter dem Kommando des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein fast an gleicher Stelle, die Front zu stabilisieren und Gegenstöße zu unternehmen, die allerdings nicht von Dauer waren. "Es wird für die Ukrainer enden wie bei Manstein. Wenn nicht, dann ziehen Sie daraus ihre eigenen Schlüsse", meinte ein russischer Blogger zur Lage in Bachmut, womit er andeutete, dass der "schwarze Schwan" durchaus über Russland seine Bahnen ziehen könnte.
Andere Blogger fühlten sich bereits "offiziell" bemüßigt, ihre bisherigen Prognosen zu Bachmut als "Mist" zu bezeichnen. Prigoschin werde keine Granaten bekommen, und auch keine neuen Rekruten: "Es hat sich alles radikal verändert." Wie die militärische Situation wirklich ist, lässt sich von außen nicht beurteilen, auf Twitter äußern sich "Sofa-Strategen" im Sekundentakt dazu, gewürzt mit jeder Menge haltloser Propaganda und allerlei "Beweis"-Videos, von denen unklar bleibt, wann und wo sie aufgenommen wurden. "Bachmut bleibt ein heiß umkämpfter Ort", fasst Blogger Golowanow den Stand der Dinge zusammen. Die Ukraine "versuche einen Gegenangriff".
Der Chef der russischen Besatzungsbehörde im Raum Saporischschja, Wladimir Rogow, verbreitete derweil eine skurrile "Theorie", warum die Ukrainer so kampfstark sind. Ihre Rekruten würden ein, zwei Tage probeweise an die Front geschickt, wo ihnen das Gefühl vermittelt werde, "unbesiegbar" zu sein, erst danach würden sie zur weiteren Ausbildung in NATO-Länder gesendet: "Dann kehren sie an die Front zurück."
"Kameras werden niemals den Schrecken vermitteln"
Das exilrussische TV-Portal "Currenttime" befragte den ukrainischen Kommandanten Denis Jaroslawski, was aktuell bei Bachmut vor sich geht. "Das ist eine Personalrotation, kein Rückzug, kein Verlassen der Stadt", sagte er. Allerdings gebe es nur noch eine einzige verfügbare Straße, und die sei nur unter größten Verlusten benutzbar. Mit derzeit vier Kilometern sei der Zugang zu Bachmut "sehr schmal". Von dem von Prigoschin so sehr beklagten "Munitionsmangel" spürten die ukrainischen Soldaten bisher nichts, die russische Artillerie arbeite "Tag und Nacht". Der Söldnerchef wolle wohl nur seine "politische Bedeutung" hervorheben. Jaroslawski bestätigte eine ukrainische "Gegenoffensive", ergänzte allerdings: "Die Objektive der Kameras werden niemals den Schrecken vermitteln, der heute in Bachmut passiert."
Auch Verdun hatte nur "symbolische" Bedeutung
Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin nannte Bachmut unterdessen eine Stadt von "symbolischem", nicht strategischem Wert. Das galt allerdings im Ersten Weltkrieg auch für Verdun, wo bekanntlich damals die blutigste Schlacht mit geschätzt 320.000 Gefallenen stattfand, ohne das eine Seite nennenswerte Bodengewinne gemacht hätte. Die deutsche Heeresleitung zielte seinerzeit auf die größtmögliche Erschöpfung des französischen Gegners, ähnliche Erwartungen hat die Ukraine nach eigenen Worten bei Bachmut. Nach Tagen der Irritation und Gerüchten, wonach sich die Verantwortlichen in Kiew über das weitere Vorgehen in Bachmut uneinig seien, hatte Präsident Selenskij angeordnet, Elitetruppen an den Frontabschnitt zu schicken.
Der US-Nachrichtensender CNN will aus NATO-Kreisen erfahren haben, dass die personellen Verluste der Russen vor Bachmut die ukrainischen um das Fünffache übersteigen. Dem gegenüber behauptete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu, die Ukrainer hätten allein im Februar 11.000 Soldaten verloren. Wie auch immer: Die Motivation auf russischer Seite scheint eher mäßig zu sein. In russischen Blogs wimmelt es von Meldungen, wonach mobilisierte Soldaten sich weigern, an die Front zu gehen. Es war die Rede davon, dass sie mit völlig veralteten Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg und ohne Artillerieunterstützung "am helllichten Tag auf freiem Feld" zum Einsatz kämen.
"Es ist kompletter Bullshit, das Personal krepiert. Das ist alles, was von meinen Leuten übrig ist", sagte ein russischer Kommandant der Territorialverteidigung in einem Beschwerde-Video, umgeben von rund zehn weiteren Soldaten.
"Ergebnisse sind nicht mehr dieselben"
Eine Frontberichterstatterin der "New York Times" schrieb derweil in einer erschütternden Reportage, die Schlacht um Bachmut sei "nicht vorbei - jedenfalls noch nicht". Es sei ukrainischen Soldaten gelungen, russische Truppen zurückzudrängen. Dabei erwähnte die Reporterin Carlotta Gall eine bizarre Kampftechnik der Privatarmee "Wagner", wonach regelmäßig eine erste Welle aus Infanteristen losgeschickt werde, um die Schusspositionen der Ukrainer festzustellen. Meist handle es sich dabei um ehemalige Gefangene, die buchstäblich als "Kanonenfutter" dienten und fast alle fielen. Danach versuche die russische Artillerie die ausgemachten Widerstandsnester der Ukrainer auszuschalten und weitere Infanteristen in Marsch zu setzen.
"Wir haben ihnen das Rückgrat gebrochen", so der ukrainische Major Pantsirny über die russischen Truppen. "Sie versuchen es weiterhin, aber ihre Ergebnisse sind nicht mehr dieselben." Grund dafür seien die wenigen verbliebenen Berufssoldaten, die Heerscharen unerfahrener Rekruten dirigieren müssten. Gleichwohl seien die Söldner "agiler und angriffslustiger" als die regulären Soldaten: "Sie haben ziemlich viel Kampferfahrung. Sie haben motiviertes Personal."
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