Schriftsteller Dževad Karahasan
Bildrechte: picture alliance/dpa | Frank Rumpenhorst

Mit 70 Jahren verstorben: Dževad Karahasan

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Schriftsteller Dževad Karahasan mit 70 gestorben

Die Belagerung Sarajevos im bosnischen Bürgerkrieg war sein Lebensthema. Noch in seinem jüngsten Roman "Einübung ins Schweben", erschienen im Januar, erzählte Dževad Karahasan davon. Jetzt ist der Schriftsteller im Alter von 70 Jahren gestorben.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

1425 Tage – fast vier Jahre lang – dauerte die Belagerung der Stadt Sarajevo im bosnischen Bürgerkrieg (1992-1995): eine Zeit voller Gewalt und Leid. Dževad Karahasan, Schriftsteller und Dramatiker, lebte mehrere Monate in der eingekesselten Stadt, 1993 konnte er Sarajevo verlassen. Immer wieder erzählte er von seinen Erfahrungen, beginnend mit seinem "Tagebuch der Übersiedlung". Auch in seinem nun letzten Roman kehrte er schreibend zurück in die belagerte Stadt und zu ihren Menschen.

Bedeutende Dokumente der Erinnerung

"Einübung ins Schweben" erzählt von der Belagerung aus der Perspektive zweier Menschen: Hier der Übersetzer Rajko Šurup, ein stiller Zeitgenosse, dort der walisische Schriftsteller und Gelehrte Peter Hurd, süchtig nach Leben. Das ungleiche Paar beschließt, Sarajevo nicht zu verlassen und so lange wie möglich darin zu verharren, sie besuchen die Menschen, berichten von Tod und Überleben. Auf eindrückliche Weise erfahren Leserinnen und Leser an ihrer Seite, was es heißt, in einer solchen Situation, in einer Hölle, zu leben, zu überleben. Dževad Karahasans Roman – er hat ihn im Januar noch im Münchner Literaturhaus präsentiert – ist ein bedeutendes literarisches Dokument der Erinnerung.

"Wenn Sie ein Jahr lang unter Umständen, die wir in Sarajevo damals hatten, leben, finden Sie sich mit unzähligen Fragen konfrontiert", so Dževad Karahasan im BR-Interview in diesem Januar. "Sie erkennen in sich Dinge, die sie nicht einmal vermuten konnten. Vor ihnen öffnen sich die Fragen, die Sie für unmöglich gehalten haben. Sie bleiben stets irgendwo in Ihnen, an Ihnen hängen."

Vermittler der Kulturen

Die mit der Erfahrung von Bürgerkrieg, Belagerung und Gewalt verbundenen Fragen hat Dževad Karahasan, geboren am 25. Januar 1953 in Tomislavagrad, in vielen seiner Bücher aufgegriffen, zuerst im "Tagebuch der Übersiedlung", unmittelbar nach seiner geglückten Flucht aus Sarajevo veröffentlicht. Ebenso erzählte immer wieder vom Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – mehr noch: von der muslimischen Tradition in Europa. Er war, mit einem jeden seiner Bücher, ebenso mit seinen Theaterarbeiten, ein Vermittler der Kulturen.

In seinen Texten berichtete er – in Sarajevo und in Graz lebend – dem Rest Europas von Geschichte und Gegenwart in Bosnien. Und schrieb sich ebenso ein in die in der griechischen Antike beginnende europäische Literaturgeschichte. Wer das Glück hatte, ihm bei einer Lesung zuhören zu können, konnte erfahren, wie souverän und gleichzeitig anschaulich er sich – voller Begeisterung, mit leuchtenden Augen – durch die Tradition von Literatur und Philosophie bewegen konnte. Seine Lesungen waren Geschenke für Zuhörerinnen und Zuhörer.

Georg Büchner in Sarajevo

Zugleich trug Dževad Karahasan die europäische Tradition nach Bosnien, gerade auch in seiner Arbeit für das Theater – und mit Studentinnen und Studenten, für ihn stets ein großes Anliegen. Als der vertriebene Schriftsteller nach dem Krieg nach Sarajevo zurückkehrte, inszenierte er am Theater zuerst die Stücke von Georg Büchner. Karahasan sagte gerne, der bedeutende deutsche Dichter aus der Vormärz-Zeit habe seine Dramen im Auftrag von Sarajevo geschrieben. Und fügte mit dem ihm ganz eigenen Humor – und augenzwinkernd – hinzu: Dass es 170 Jahre im Voraus geschah, sei eine technische Kleinigkeit gewesen.

"Georg Büchner hat" – so Dževad Karahasan – "uns sehr klar gezeigt, wie übrigens auch unser großer Schriftsteller Ivo Andrić, dass die Geschichte ein Monster ist. Ein Monster, das sich von unserem Blut, von unserem Leiden, von unseren Tränen, von unserer Freude ernährt, um weitergehen zu können. Dieses der-Geschichte-ausgesetzt-Sein hat Büchner großartig artikuliert – und uns in Sarajevo, in Bosnien vor Augen geführt."

Sein Anliegen: die europäische Verständigung

Für sein umfangreiches Werk wurde Dževad Karahasan vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. 2004 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung. Er zählt zu den Preisträgerinnen und Preisträgern, die europäische Verständigung nicht nur beschworen haben, sondern sie auch lebten. In diesem Sinne war er, als Schreibender und Erzähler, ein Glücksfall für die europäische Kultur.

Die Literatur besaß für diesen Erzähler eine große Kraft. Sie lehnt sich auf gegen das Vergessen, bewahrt – in den Geschichten – Erinnerungen, eröffnet Räume der Reflexion über unbequeme Fragen. Und sie ist überhaupt eine der wichtigsten Formen der Erkenntnis, glaubte Dževad Karahasan. Das Werk des bosnischen Erzählers – darunter ein Buch wie "Der nächtliche Rat" und ebenso der jüngste Roman "Einübung ins Schweben" – verteidigt die menschliche Existenz, gerade indem es vom Überleben in einer Zeit großer Unmenschlichkeit berichtet. Sein Werk wird bleiben, als Chronik, als Vergewisserung – und ebenso als große europäische Literatur.