Im Dezember bei einer Tagung
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Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu (links) und Armeechef Waleri Gerassimow

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"Schale mit dem stärksten Gift": Rätsel um Russlands Armeespitze

Nachdem Putin seinen obersten General persönlich mit der Leitung des Feldzugs gegen die Ukraine betraute, wittern Experten hinter den Kulissen ein Drama wie bei Shakespeare: "Diese Geschichte hat es in sich: Zerrissenheit, Machtkampf, Eifersucht."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Wir versuchen zu verstehen, was wir nicht wissen", seufzte der Chefkommentator einer der wichtigsten russischen Zeitungen, nachdem Putin seinen Generalstabschef Waleri Gerassimow (67) persönlich mit dem Feldzug gegen die Ukraine betraut hatte. Die Entscheidung kam einigermaßen überraschend, denn der langjährige oberste Militär des Landes gilt zwar als politisch absolut loyal, aber auch unauffällig und ist den "Ultrapatrioten" eher suspekt, weil sie ihn für einen "zahnlosen" Bürokraten ohne eigene Ideen halten.

Ihm wird von den nationalistischen Militärbloggern seit Monaten vorgeworfen, den ursprünglich geplanten "Blitzkrieg" gegen die Ukraine vermasselt zu haben und hauptverantwortlich zu sein für eine angeblich undurchschaubare und schwerfällige Kommandostruktur.

"Nur das Endergebnis zählt"

Warum der Kreml trotzdem ausgerechnet den seit November 2012 als Generalstabschef dienenden Gerassimow persönlich für die Leitung des Angriffskriegs mobilisierte und den bisher in dieser Funktion amtierenden, bislang als "scharfer Hund" gerühmten General Sergej Surowikin (56) zum Stellvertreter degradierte, darüber begann ein skurriles Rätselraten in russischen und westlichen Medien. "Um ehrlich zu sein, wir wissen es nicht. Übrigens nicht nur wir", schrieb der bereits oben zitierte Michail Rostowski in den kremlnahen "Moskowski Komsomolez". Putins Autorität sei halt "bedingungslos", daher verhalte er sich "wie ein oberster Führer, der niemandem etwas erklären muss, und erst recht nicht verpflichtet ist, sich vor irgendjemandem zu rechtfertigen".

Er denke allerdings, so Rostowski, angesichts der "anderen Herausforderungen", die sich Russland aktuell stellten, könne man sich mit Putins "Ignoranz" abfinden: "Es sind nicht die Einzelheiten, die zählen, nicht einmal die wichtigen. Nur das Endergebnis zählt." Dieser Propagandist findet sich also wortreich damit ab, dass er keine Ahnung hat von der Personalpolitik an Russlands Armeespitze.

"Jetzt ist der Generalstab kompromisslos verantwortlich"

Der populäre Semjon Pegow ("Wargonzo") meint dagegen den Grund für die Personalrochade zu kennen: "Das ist ein offensichtlicher Schritt, um die Verwässerung der Verantwortung während bestimmter Episoden im Zusammenhang mit der Spezialoperation zu beenden." Das alte Sprichwort, wonach Siege viele Väter haben, die Niederlage jedoch eine Waise ist, sei nun hinfällig: "Jetzt ist der Generalstab direkt und kompromisslos für absolut alles verantwortlich."

Ein anderer Militärblogger zeigte sich empört darüber, dass der bisherige Feldzugschef Surowikin in die zweite Reihe gestellt wurde, womit "im Prinzip auf eine Person gespuckt" werde, die "in einem sehr schwierigen Moment" die Leitung übernommen habe: "Der Mann stabilisierte die Front und begann mit einem wichtigen Vorhaben, das niemand vor ihm angepackt hatte - er zwang die Truppen, sich einzugraben. Ob das schlecht oder gut war, aber er verdichtete die mobilisierten Kampfformationen."

"Wir brauchen eine andere Autoritätsebene"

Für den nationalistischen Politologen Sergej Markow hat sich Putin mit der Personalentscheidung ein Beispiel an der Privatarmee "Gruppe Wagner" genommen: "Die Ernennung von Gerassimow zum Kommandeur der Front-Streitkräfte erfolgte aufgrund des Erfolgs von Wagner. Die Effektivität von Wagner in diesen Schlachten erwies sich als viel höher als die Effektivität regulärer Truppen. Einer der Hauptgründe für Wagners hohe Effizienz ist die fehlende Bürokratie, sind schnelle Managemententscheidungen. Jetzt hat das Verteidigungsministerium Konsequenzen gezogen." Die Entscheidungsgeschwindigkeit werde sich "dramatisch" beschleunigen.

Portrait: Wer ist die Wagner-Gruppe?

Angeblich in Salzmine bei Soledar: Chef Jewgeni Prigoschin (Mitte) mit Wagner-Söldnern
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Angeblich in Salzmine bei Soledar: Chef Jewgeni Prigoschin (Mitte) mit Wagner-Söldnern

Markows Kollege Viktor Baranets griff zu pathetischen Worten und meinte, der Einsatz im Krieg werde jetzt noch höher, da reiche Surowikins Kraft nicht mehr aus: "Hier brauchen wir Personen auf einer anderen Autoritätsebene." Gerassimow könne als Generalstabschef wirklich alle Teile der Truppe einsetzen, während sein Vorgänger sich mit zahlreichen weiteren "Oberbefehlshabern" habe koordinieren müssen.

Im Portal Rybar hieß es dagegen lakonisch: "Die Summe ändert sich nicht, wenn Teile von ihr die Plätze tauschen: Das ist das Einzige, was man über Gerassimows Ernennung sagen kann.“

"Jetzt muss der General vom Himmel steigen"

Die Einschätzung kremlkritischer und westlicher Experten ist deutlich weniger zuversichtlich. Beobachter Roman Switan sagte in dem im Ausland erscheinenden Portal "Currenttime" voraus, dass Gerassimow dasselbe Schicksal ereilen werde, auf das sich jetzt Surowikin gefasst machen müsse, nämlich eine Art "damnatio memoriae", wie die Römer die Tilgung von Prominenten aus dem öffentlichen Bewusstsein nannten: "Wenn sie auf eine niedrigere Position versetzt oder von der großen Autorität verleugnet werden, dann sind sie abgeschrieben. Sie werden nicht sofort irrelevant, sondern in mehreren Stufen. Zuerst gilt es, Sie vergessen zu machen, das nimmt mehrere Monate in Anspruch, und dann entfernen sie die Person einfach. Weg von Führungspositionen und in der Öffentlichkeit nicht mehr auffindbar. Jetzt werden wir in naher Zukunft nichts mehr von Surowikin hören."

Über Gerassimows neue Aufgabe sagte Switan ironisch: "Jetzt muss der General vom Himmel auf die Erde hinabsteigen, aber er hat die Erde schon lange nicht mehr betreten." Vermutlich gehe es nur darum, dem Generalstabschef alle weiteren Fehlschläge und Versäumnisse in die Schuhe schieben zu können.

"Er muss irgendeine Art von Sieg erringen"

Auf dem Schlachtfeld werde sich nicht viel ändern, vermutet der Experte des britischen Fachblatts "New Statesman". Gerassimow werde als Nummer vier an der Spitze des Feldzugs vor denselben Problemen stehen wie alle seine Vorgänger: "Die Armee ist korrupt und übermäßig bürokratisch, ihre Truppen sind unzureichend ausgerüstet und auf irreguläre Kräfte wie Ex-Strafgefangene angewiesen, die für die Wagner-Gruppe kämpfen, die private Militärfirma unter der Führung von Jewgeni Prigoschin, die für ihre Brutalität bekannt ist."

Mark Galeotti, Senior Fellow am britischen Royal United Defense Research Institute (RUSI) verwies in der "Moscow Times" darauf, dass Gerassimow in elf Monaten wohl nur ein einziges Mal in Frontnähe war. Als "Beförderung" sei seine neue Rolle wohl nicht zu verstehen, eher als die "Schale mit dem stärksten Gift": "Jetzt hängt alles von ihm ab, und ich vermute, dass Putin wieder unrealistische Erwartungen hat. Gerassimow muss irgendeine Art von Sieg erringen, sonst steht ihm ein beschämendes Ende seiner Karriere bevor."

"Sie wissen nicht, was sie tun sollen"

Dara Massicot, Senior Researcherin bei der amerikanischen Rand Corporation, formulierte wenig schmeichelhaft, Moskau habe "den kompetentesten Kommandanten [Surowikin] gegen einen inkompetenten ausgetauscht": "Diese Geschichte hat es in sich: innere Zerrissenheit, Machtkampf, Eifersucht." Das bezieht sich auf Spekulationen, wonach Putin seinen Generalstabschef Gerassimow stärken wollte, um den militanten Dauerkritikern Jewgeni Prigoschin und dem Tschetschnen-Führer Ramsan Kadyrow zu zeigen, wo ihr Platz im System ist, nämlich in den hinteren Reihen.

Die "Financial Times" zitierte einen angeblichen Kreml-Insider, der behauptete, Putin mische einfach "die Karten neu, weil sie in einer Sackgasse stecken und nicht wissen, was sie tun sollen". Es regierten durchweg Männer um die siebzig, die alle nicht wüssten, wie man einen "modernen Krieg" führe. Das wäre übrigens eine zeitgeschichtliche Parallele zu Deutschland am Beginn des Ersten Weltkriegs, als der damals 66-jährige Generalstabschef Helmuth Johannes Ludwig von Moltke mit seinem völlig veralteten Wissen schnell den Überblick verlor und wenige Wochen nach Kriegsausbruch eilig ersetzt werden musste.

50.000 Granaten täglich

Leidtragende dieser taktischen und strategischen Unsicherheit sind im jeden Fall die Soldaten. In der andauernden Schlacht um die Kleinstadt Soledar und das benachbarte Bachmut, vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj zum "Thema Nummer eins" ausgerufen, sollen gerüchteweise auf beiden Seiten tausende von Kämpfern gefallen und verwundet worden sein. Es ist bei Gewährsleuten der britischen BBC von bis zu 50.000 Granaten allein auf ukrainischer Seite die Rede, die in der Region täglich abgefeuert werden.

Die im Netz verbreiteten Luftbildaufnahmen sind nur mit den zerfurchten Schauplätzen des Ersten Weltkriegs in Flandern vergleichbar. Grund dafür: der Kampf um den Ort bekam eine ähnlich symbolische Funktion wie Stalingrad im Zweiten Weltkrieg und wird von Moskau als "Wendepunkt" inszeniert. Da zählt militärische Logik wenig: "Der Kreml braucht den Sieg."

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