Arbeiter mit einem Hochdruckreiniger am Reiterdenkmal
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Geht immer: Peter der Große wird gereinigt

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"Saufen mit KGB-Rentnern": Russland zimmert sich eine Ideologie

Putin ist auf der Suche nach einer geistigen Orientierung für seine Landsleute, doch die russische Verfassung verbietet bisher ausdrücklich eine "Staatsideologie". Gleichwohl werden neue Lehrbücher verfasst und die Geschichte umgeschrieben.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der inhaftierte Kremlkritiker und Oppositionspolitiker Ilja Jaschin (39) verglich den gegenwärtigen Zustand Russlands mit einem Saufgelage: Das ganze Land habe sich mit "KGB-Rentnern" zum Trinken verabredet und lasse sich derzeit mit deren ideologischen Freigetränken volllaufen: "Dann fingen sie an, sich für großartig zu halten und randalierten beim Nachbarn herum." Doch der Kater werde nicht mehr lange auf sich warten lassen: "Der Prozess der Ausnüchterung wird schmerzhaft und demütigend sein. Er wird sehr peinlich sein. Wir müssen um Vergebung bitten und den angerichteten Schaden ersetzen. Wir müssen ein für alle Mal aufhören, sowohl mit dem Alkohol aus Zarenzeiten, als auch mit den Saufkumpanen vom KGB. Es wird nicht einfach sein. Aber wir werden es schaffen."

Jaschin bezieht sich natürlich auf die KGB-Vergangenheit von Wladimir Putin und seinem engsten Umfeld. Dass sie vom Kommunismus geprägt sind, ist unbestritten, dass sie den Niedergang der Sowjetunion für eine Katastrophe halten, ebenso. Doch Experten bezweifeln, dass sich Putin und die Oligarchen nach dem Sozialismus zurücksehnen, eher schon nach dem zaristischen Imperium und dem Glanz von Peter dem Großen. Wie auch immer: Die Propagandisten beklagen wortreich eine ideologische Leerstelle, die fehlende geistige Orientierung, zuletzt der Vorsitzende des russischen Menschrechtsrates, Valery Fadejew.

"Ideologie ist Macht"

Dabei stellte der Putin-Fan klar, dass es nicht um ein Thema für versponnene Philosophen gehe: "Was ist möglich und was nicht, was wird vom Staat, der Gesellschaft oder einzelnen Gesellschaftsgruppen gefördert und was wird verurteilt oder sogar verboten. Die Ideologie legt die Koordinaten des Lebens der Gesellschaft und des Einzelnen fest. Ideologie ist Macht!" Fadejew zufolge wurde der Kommunismus 1991 vom Kapitalismus abgelöst, wurden die russischen "Werte" durch westliche ersetzt, wobei die "Liberalen" die Russen mit einer Art "Hütchenspiel" hinters Licht geführt hätten: Jedes Mal, wenn das Land weiter verarmt sei, sei eine neue Ausrede gefunden worden, woran das wohl liegen könne - an fehlender Demokratie, falscher Tradition oder unzureichender Kultur.

"Die alte Ideologie zielte darauf ab, Russland in den Westen zu integrieren. Die neue setzt Souveränität und Opposition zum Westen voraus. Darüber hinaus wird die neue Ideologie den Anspruch erheben, eine globale Alternative zu sein. Der Westen kontrolliert nicht mehr die ganze Welt", so Fadejew, der allerdings glaubt, dass Russland für die geistige Umorientierung noch viel Zeit benötigen werde. Deshalb hält er eine Verfassungsänderung für "verfrüht".

Eine Umfrage des kremlnahen Portals "Nezygar" ergab, dass die Befragten das Thema Ideologie mehrheitlich für "unbedeutend" hielten. Die meisten hätten "keine positive Zukunftsvorstellung" und begrüßten statt einer "Staatsideologie" einen "Pluralismus" der Meinungen. Viele fürchteten eine "Militarisierung" der Schulen und konnten sich mit dem Gedanken an mehr Aufmärschen und vaterländischen Festen nicht anfreunden. Allerdings sei für "einige Befragte" bedauerlich gewesen, dass in Russland weniger ausländische Filme anliefen und Musikbands fernblieben.

Putin wirbt für "Freiheit des Wissens"

Putin selbst hatte bei einem Treffen mit den Staatschefs von Kirgisien, Kasachstan, Belarus, Armenien und Aserbaidschan eine "gemeinsame eurasische Ideologie" in Aussicht gestellt, definiert durch fünf "Freiheiten", nämlich freien Waren-, Dienstleistungs-, Geld- und Arbeitskräfteverkehr, sowie der "Freiheit des Wissens" mit "allgemeinen Grundsätzen und Standards". Dieser Vorstoß wurde vom kasachischen Präsidenten Tokajew allerdings umgehend und harsch abgelehnt. Er hat an einer ideologischen Annäherung an Moskau kein Interesse, ebenso wenig wie an politischem Gleichschritt.

Im Übrigen scheinen die russischen Wissenschaftler selbst die "Freiheit des Wissens" unter Putin wenig zu schätzen: In den vergangenen fünf Jahren sollen nach Angaben des Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften rund 50.000 Forscher das Land verlassen haben. Es war von einem "Krieg" der Geheimdienste gegen profilierte Fachleute die Rede. Sogar Physiker, die an Putins "Superwaffe", den Überschallraketen, gearbeitet hatten, wurden wegen angeblicher Spionage für China verhaftet.

"Potentiell vorteilhaftere Position"

Der Kreml scheint sich schwer zu tun, seine fadenscheinige Propaganda einigermaßen anspruchsvoll ideologisch zu verbrämen. Deshalb sollen an den Universitäten künftig Kurse zu den "Grundlagen der russischen Staatlichkeit" angeboten werden, die laut dem im Ausland erscheinenden Portal "Meduza" insgesamt 72 Unterrichtsstunden umfassen sollen. Lernziel sei "ein ausgeprägtes Gefühl für Staatsbürgerschaft und Patriotismus". Die Pädagogen sollen dabei die "beispiellose territoriale Ausdehnung" Russlands in den Vordergrund stellen und seinen "natürlichen Reichtum" preisen. Den "Helden" der Geschichte wird selbstredend ebenfalls viel Platz eingeräumt.

Russland habe seinen "Höhepunkt noch nicht erreicht", heißt es in den zitierten Unterrichts-Leitlinien. Bei den quasireligiösen Begriffen dominieren die "Familientraditionen" und das "Vertrauen in die staatlichen Institutionen". Der Präsident stehe dabei "über allen Machtzirkeln". Der Westen leide unter einem "Verlust seiner kulturellen Identität" und müsse sich mit "multikulturellen Problemen" herumschlagen: "Die zivilisatorische Entwicklung Russlands hat es angesichts dieser negativen Trends noch einmal in eine potentiell viel vorteilhaftere und vielversprechendere Position gebracht."

"Anti-Science-Fiction"

Der oppositionelle Autor Lew Rubinstein spottete in der Exil-Zeitung "Novaya Gazeta Europe", Putin fordere die "Liebe zur Vergangenheit", die aber in Wirklichkeit nur eine aberwitzige Zuneigung zur "heimischen Asche" und zu den "Särgen der Vorväter" sei. Rubinstein hielt das für eine "ungenießbare Mischung" und "Anti-Science-Fiction". Ein Russe aus der Frühzeit des Kommunismus drehe sich wahrscheinlich im Grabe um, denn damals, unter Lenin und Stalin, habe die Vergangenheit als solche einen denkbar schlechten Ruf gehabt. Auch Anfang der neunziger Jahre, in der Gorbatschow-Ära, seien mit der Zukunft noch Hoffnungen verbunden gewesen, doch "ein bedeutender Teil der Gesellschaft" habe sich aus Enttäuschung über die Marktwirtschaft "stalinistischen" Vorstellungen zugewandt.

Der Generaldirektor der russischen Immobilien-Gruppe "Prospekt", Juri Moisejenko, kritisierte Landsleute, die "am Ufer sitzen und auf den Messias warten". Der in Jekaterinburg im Ural beheimatete Manager fasste seine Vorstellung von Ideologie in einem interessanten Essay sehr weltlich zusammen: "Ich sage dir, was ich will. In einem starken und wohlhabenden Land leben, nämlich Russland. Seien Sie stolz auf ihre Leistungen und tragen Sie dazu bei." Das ist wohl als Absage an Propaganda-Floskeln zu werten, zumal Jekaterinburg dem Kreml ohnehin als "Brutstätte" liberaler Ideen gilt.

"Geist ist stärker als der Körper"

Wörtlich schrieb Moisejenko: "Wenn es dreißig Jahre lang keine Ideologie gegeben hat, wenn die Geschichte des Landes als endloser Strom von Scheiße gelehrt wurde, wonach es nichts gibt, worauf man stolz sein kann, wonach man nichts rechtfertigen kann, wenn sie mit fröhlichem Gegacker über Patriotismus als 'letzter Zuflucht der Idioten' gesprochen haben, was nahelegt, dass es sich bei Patriotismus und Wahnsinn um ein und dasselbe handelt, ohne die wahre Bedeutung des Begriffs zu verstehen, was wollen Sie dann von Dreißigjährigen erwarten?" Im Unterschied dazu seien die USA vorbildlich, weil die Menschen dort "aufrichtig" glaubten, dass ihr Land den Wohlstand fördere.

Moisejenko ist demnach das Sendungsbewusstsein wichtiger als der Rückgriff auf Russlands Historie, wobei die aus seiner Sicht positive Beispiele von missionarischem Eifer bereithält: "Dass das Vertrauen in die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges, in die Tatsache, dass 'unsere Sache gerecht ist', die menschliche Kraft enorm steigert, ist nicht neu. Ohne dies hätten die 'Roten' zu Beginn des letzten Jahrhunderts und die Rote Armee in den 1940er Jahren keinen Sieg errungen. Zutiefst religiöse Menschen können bei sich selbst Stigmata hervorrufen – der menschliche Geist wird in solchen Fällen stärker als der Körper. Einen solchen 'Hebel' freiwillig aufzugeben, bedeutet, sich bewusst dazu zu verurteilen, sich von denen besiegen zu lassen, die eine Ideologie haben."

"Russische Ideologie bricht gerade zusammen"

Für den Vizechef der russischen Kommunisten, Juri Afonin, unterscheidet die Ideologie den Menschen vom Tier. Er hält Gesinnungsfragen ausdrücklich nicht für "Privatsache": "Sobald sich der Staat aus dieser Rolle zurückzieht, beginnen andere Staaten, die dem jeweiligen Land oft feindlich gegenüberstehen, in die ideologische Sphäre der Gesellschaft einzudringen. Daher hat tatsächlich jeder Staat die eine oder andere staatliche Ideologie. Doch in der Russischen Föderation bricht diese Ideologie gerade zusammen." Afonin meint damit natürlich den "Liberalismus" der Nach-Wendezeit, der aus dem "Westen entlehnt" worden sei.

"Es ist unmöglich, sich einfach hinzusetzen und von Grund auf eine neue Staatsideologie zu entwickeln. Genauer gesagt, man kann es sich vorstellen, aber es wird eine Totgeburt bleiben, niemanden anziehen oder vereinen. Es ist notwendig, dass die Ideologie auf etwas basiert, mit der die Geschichte des Landes und der Menschen verbunden ist", so der Kommunist, der als Orientierungshilfe natürlich die "Sowjetzeit" empfiehlt: "Denn zu dieser Zeit waren wir tatsächlich die Führer des weltweiten Fortschritts. Wir waren im spirituellen Bereich, im Bereich der Symbole so unabhängig wie irgend möglich. Darüber hinaus haben wir der ganzen Welt eine attraktive Entwicklungsalternative geboten."

"Wir müssen das Problem lösen"

Der russische Justizminister Konstantin Tschuitschenko verwies derweil darauf, dass "kein Land der Welt" in seiner Verfassung eine "Staatsideologie" verbiete: "Natürlich müssen wir das Problem mit dem Artikel lösen." Zuletzt hatte Russland seine Verfassung per Volksabstimmung im Juli 2020 geändert. Damals wurde Gott im Text erwähnt, die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau definiert, Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR festgeschrieben und Putin ermöglicht, rein rechtlich bis 2036 an der Macht zu bleiben.

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