"Mein Name fängt mit dem ersten Buchstaben des Alphabets an und ist ein Schrei, ein Stocken, ein Fallen, ein Versprechen auf ein B und ein C, die es nicht geben kann in der Kausalitätslosigkeit der Geschichte./ Ein Denkfehler, zu glauben, die, die gemeinsame Stationen durchlaufen, kommen als ein Gemeinsames irgendwo an." Sasha Marianna Salzmann: Außer sich
Alissa, genannt Ali, 20 Jahre jung, gerät „Außer sich“. Ihr Mathestudium hat sie an den Nagel gehängt. Nun folgt sie einer Postkarte nach Istanbul, um dort ihren Zwillingsbruder Anton zu suchen, findet Aufnahme bei Onkel Cem, gerät in die Trans-Community und eine amouröse Beziehung und muss sich fragen lassen, wer bin ich? Alis Suche nach Anton wird zur Suche nach sich selbst. Orte, Grenzen, Geschlechter lösen sich auf in diesem Roman über die Verwandlung eines Ich, über eine russisch-deutsch-jüdische Familie und Entgrenzungen aller Art.
Nichts als immer neue Narrative!
"Ich glaube, wenn ich versuche, so richtig meinen Stoff zu greifen, funktioniert es nicht, weil er eine Brüchigkeit erzählt. Es ist der Versuch, eine Wahrheit zu rekonstruieren, eine Familiengeschichte zu erforschen und immer wieder darauf zu stoßen, dass alles nur ein Narrativ ist, was irgendwer irgendwem irgendwann gesagt hat, das um- und überschreibbar ist. Wir kennen das auch von der Situation bei Familienfesten, dass derselbe Mythos nochmal anders erzählt wird. Vor allem kennen wir das mit Erinnerung, dass Erinnerung ja keine abrufbaren Informationen sind, sondern immer überschrieben werden, und das macht einen so verzweifelt, weil man ja doch irgendetwas Wahrhaftiges haben möchte." Sasha Marianna Salzmann
Ali beginnt, ihre Familie zu erforschen: die Urgroßeltern, Ärzte im Stalinismus mit der Bürde, etwas Besonderes sein zu müssen; die Großeltern, Eltern und ihre Familie in Moskau, die Zwillinge, die einander Halt geben, wenn die Eltern streiten, die Migration mit 32 Koffern als russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, Heim, Pöbeleien, Rassismus. Die Lebensgeschichten spiegeln Tragödien des 20. Jahrhunderts. Stationen Alis sind biografische Eckpunkte ihrer Autorin, Autofiktion.
Ein Spiel mit Identitäten
Die Grundidee des Romans ist ein Stück, Shakespeares „Was ihr wollt“, worin Viola, in männlicher Verkleidung, ihren Bruder sucht. Sasha Marianna Salzmann hat aus dem dramatischen Spiel mit Identitäten ein betörendes Stück Prosa von heute gemacht. Und einen Welterfolg. Schon jetzt wird ihr Debüt „Außer sich“ in dreizehn Sprachen übersetzt.
Sasha Marianna Salzmann: "Außer sich", Roman, Suhrkamp, 366 Seiten, 22 Euro