Dieser Film ist so vielfältig und verschlungen, so fein und gleichzeitig von großer stiller Wut beseelt, dass man sich erst einmal schwertut, ihn in ein paar Worte zu fassen. Niemanden verschrecken möchte der Rezensent zudem durch die pure Inhaltsangabe, denn was hier (im wahrsten Sinne des Wortes) verhandelt wird, klingt erst einmal brutal und verachtenswert: Eine junge Mutter, ihr Name Laurence Coly, eine Migrantin senegalesischer Herkunft, ist in Frankreich wegen Kindsmordes angeklagt. Sie soll ihr Baby auf dem Strand eines nordfranzösischen Badeortes abgestellt haben, bis die Flut es holte. Der Fall ist verbürgt, er ereignete sich auf ähnliche Art und Weise tatsächlich so im November 2013. In Frankreich erregte er großes Aufsehen. Regisseurin Alice Diop verfolgte damals den Prozess und nahm an ihm als Besucherin auch teil.
Es ist die tragische Geschichte einer jungen Frau, einer Studentin der Philosophie in Paris. Sie lebt in einer Beziehung mit einem älteren Bildhauer, einem Mann, der sie – so offenbart es der Prozess – wohl wie eine Bedienstete ohne Rechte einsperrte, auch noch, als sie schwanger war.
Wir fühlen uns ertappt
Kamerafrau Claire Mathon rückt diese Frau auf der Anklagebank des Gerichtes der kleinen Stadt Saint Omer immer wieder frontal ins Bild, ganz unvoreingenommen, schaut ihr zu – und sie schaut irgendwann zurück, blickt uns an. Im Kino empfindet man diesen Blick fast als unangenehm. Man fühlt sich ertappt, als hätte man die Frau aus einem gewissen voyeuristischen Interesse ins Visier genommen. Neugierig und sensationslustig.
Guslagie Malanda in "Saint Omer"
Die Blicke erzählen alles in diesem so minimalistischen wie spektakulären Film mit seinen warmen Farben: Wie blickt die Mehrheitsgesellschaft (manchmal ein eher grobes nivellierendes Wort, hier aber angebracht) auf gesellschaftliche Randgruppen? Auf welche Art und Weise fühlen sich Minderheiten beobachtet oder gar Blicken ausgesetzt? Regisseurin Alice Diop weitet unseren Blick, weitet den Blick auf die Geschichte des Mordes und auf den Umgang mit ihr, hinterfragt Blickrichtungen und Wahrnehmungsebenen. Und irgendwann wirkt es so, als würde auch die Angeklagte Laurence Coly endlich beginnen, auf sich selbst zu blicken, überhaupt zu erkennen, was geschehen oder vielmehr: was ihr widerfahren ist. Im imaginären Raum des Films sitzt dann plötzlich die ganze französische Gesellschaft vor Gericht. Es geht um versteckten wie offenen Rassismus, um Diskriminierung, um Geschlechterrollen, um Mutterschaft und in einer künstlerischen Überhöhung auch um den antiken Medea-Stoff. Laurence Coly hat im Exil nie zu sich selbst gefunden, fühlte sich ausgeschlossen, konnte den Erwartungen nicht standhalten: den eigenen nicht, denen ihrer Eltern im Senegal nicht, und denen der neuen Heimat nicht.
Akademischer Rassismus
Sie habe sich gewundert, dass Coly "als afrikanische Frau" ihre Doktorarbeit über Wittgenstein schreiben wollte, erklärt deren Uniprofessorin vor Gericht, "sie hätte doch genauso gut ein Thema wählen können, das ihrer Kultur näher ist." So lautet einer der wesentlichen Sätze des Films, der zeigt, dass auch eine Akademikerin in einem hierarchischen System Rassismen bedient.
"Saint Omer" ist ein Film über die Fremdheit in der Fremde. Er öffnet einen weiten Raum, in dem nach dem Kinobesuch vieles nachhallt. Er ist traurig und niederschmetternd, in Bezug auf die Geschichte, die erzählt wird – aber auch auf erstaunliche Weise beglückend, weil man plötzlich anfängt, über viele Dinge neu nachzudenken und glaubt, etwas zu verstehen. Es gibt einen Unterschied zwischen: sich beobachtet fühlen und gesehen werden. "Saint Omer" verfeinert die Wahrnehmung. Man kann jemanden anschauen – und man kann ihn sehen, also in seinem Sein erkennen. Darum geht es.
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