Zwei Männer stehen in einem Erdloch
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Im Schützengraben: Ukrainische Soldaten in Bachmut

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Russlands Armee gräbt sich ein: "Wo bleibt der Durchbruch?"

Über hunderte von Kilometern lässt Putin derzeit Befestigungen errichten, während kaum noch von "Offensiven" die Rede ist. Schützengräben sind allgegenwärtig. Orientieren sich die russischen Generäle an der Fachliteratur aus dem Ersten Weltkrieg?

Die Satelliten-Fotos sind so beeindruckend wie anachronistisch: Russlands Armee ist gerade dabei, die Halbinsel Krim zu verschanzen, nach ukrainischen Angaben sind dort bereits rund 200 Kilometer Schützengräben ausgehoben, lange Strandabschnitte wurden befestigt, wie aktuelle Aufnahmen zeigen. In Frontnähe werden Tausende von pyramidenförmigen Beton-Panzersperren errichtet, sogenannte "Drachenzähne" oder auch "Höckerlinien".

Das amerikanische "Institute for the Study of War" schreibt dazu in seinem Tagesbericht vom 10. März, die Gräben seien wohl überwiegend der Propaganda geschuldet. Gouverneure wollten damit optisch deutlich machen, wie "bedrohlich" die Ukraine und wie "existentiell" der Kampf für Russland sei: "Fortgesetzte Arbeiten an den russischen Befestigungen auf der Krim könnten darauf hindeuten, dass die russischen Streitkräfte unsicher sind, ob sie langfristig besetzte Gebiete in der Südukraine halten können." Soldaten gebe es in den Gräben nicht, militärisch seien sie derzeit "belanglos". Die umgerechnet 132 Millionen Dollar, die Russland allein für den Abschnitt bei Belgorod aufgewendet habe, sei "wahrscheinlich Geldverschwendung".

So sieht sie also aus, die "aktive Verteidigung", von der bei russischen Militärbloggern neuerdings die Rede ist. Ein prominenter Vertreter wie Vladlen Tatarsky mit einer halben Million Followern träumt nach eigener Aussage zwar von einer baldigen Umsetzung des chinesischen "Friedensplans", erwartet jedoch, dass der Krieg erst endet, wenn die Ukraine personell "total erschöpft" sei.

"Kleinteilige Aktionen"

Gradmesser dafür seien für ihn drei Millionen getötete und verwundete Soldaten, erst dann könne der Kreml "an ernsthafte Verhandlungen denken, bei denen uns ein akzeptabler Frieden angeboten wird". Die Leser würden sich allerdings wohl fragen, was denn mit dem entscheidenden Sieg sei: "Wo bleibt der Durchbruch?"

Das alles erinnert tatsächlich an die festgefahrenen Fronten im Ersten Weltkrieg und die verzweifelten Versuche der damaligen Armeeführungen, den Gegner mit "Abnutzungsschlachten" zur Strecke zu bringen, also materiell und personell auszuzehren. Nicht von ungefähr heißt es daher in der Propaganda der russischen wie der ukrainischen Seite, in der Schlacht um Bachmut verliere der Feind täglich asymmetrisch viele Soldaten, "blute" also nach und nach aus.

Beim derzeitigen "Grad an Professionalität" sei jedenfalls in nächster Zeit nicht mit "tiefen Durchbrüchen" an der Front zu rechnen, argumentiert Tatarsky. Russland müsse sich auf "kleinteilige Aktionen" beschränken. Andere Quellen behaupteten sogar, in Bachmut gebe es mangels Infanterie und Munition eine kurzzeitige "Kampfpause". Söldnerführer Prigoschin, der mit seiner "Wagner"-Truppe in der Gegend besonders aktiv ist, eröffnete nach eigener Darstellung 42 "Rekrutierungsbüros", um seine Personalprobleme zu lösen, denn Stellenanzeigen durfte er nicht schalten: "Trotz des kolossalen Widerstands der Streitkräfte der Ukraine werden wir voranschreiten."

"Falsche Schlüsse gezogen"

Der populäre Telegram-Kolumnist Alexander Chodakowski stellte nüchtern fest, dass Russlands Soldaten jahrelang jede Eigeninitiative abgewöhnt wurde und es an Motivation fehlt: "Wie können wir gewinnen, ohne zu wissen, wie man mobilisiert?" Vom Westen könne der Kreml lernen, wie "Wettbewerbsdenken" eine Armee voranbringe. Stattdessen habe Moskau aus dem Tschetschenien- und Syrienkrieg die "falschen Schlüsse" gezogen. Die Meldungen über meuternde Rekruten reißen nicht ab.

Offenbar sind Russlands Generäle mit ihrem Rückgriff auf die Kampftechniken des Ersten Weltkriegs nicht erfolgreich gewesen, womöglich sogar gescheitert, denn die Geländegewinne seit September sind sehr gering. Die "New York Times" hatte in einer großen Reportage darüber berichtet, wie der "Schützengrabenkampf" in der Ostukraine aussieht. Demnach setzen russische Kommandeure auf eine Taktik, die erstmals der französische Hauptmann André Laffargue in seinem Buch "Der Angriff im Stellungskrieg" (1917) beschrieben hatte. In seinen "Eindrücken und Überlegungen" kam der Offizier zum Ergebnis, dass gut ausgebaute Schützengräben nur durch massive Angriffe in "Wellen" mit großen Verlusten zu nehmen seien.

"Berauscht von frischer Luft"

Konkret empfahl er, nicht kontinuierlich anzugreifen, sondern innerhalb kürzester Zeit mit maximalem Einsatz von Infanteristen vorzugehen: "Wir rasten los wie eine Wand, wir waren unüberwindlich." Die Soldaten allerdings würden dabei im Feuer des Gegners so schnell "verbrannt" wie ein Bündel Stroh. Um trotzdem erfolgreich zu sein, müssten die eingesetzten Truppen hochmotiviert sein: "Damit eine Einheit in der Lage ist, den Feind zu erreichen, muss jeder Mann absolut davon überzeugt sein, dass sein Nachbar an seiner Seite marschieren und ihn nicht im Stich lassen wird; er sollte sich nicht umdrehen müssen, um zu sehen, ob sein Kamerad hinterher kommt."

Außerdem beschwor Laffargue den unbedingten "Angriffswillen" der Soldaten: "Greifen Sie daher nur mit Truppen an, die sich schon länger nicht mehr blutig anstrengen mussten und ihre Energievorräte wieder aufladen konnten." Wer bereits wochenlang im Schützengraben unter Beschuss gestanden habe, sei nervlich selten in der Lage, sich im offenen Gelände von "frischer Luft und Vorwärtsbewegung berauschen zu lassen". Um seinen Leuten die Scheu vor dem Nahkampf abzugewöhnen, ließ Laffargue sie mit Bajonetten auf Strohpuppen losgehen.

Frankreich war mit dieser "Kanonenfutter"-Taktik übrigens ebenso wenig erfolgreich wie aktuell Russland: Der französische Oberbefehlshaber Robert Nivelle (1856 - 1924, Spitzname "Blutsäufer"), der auf verlustreiche Offensiven setzte, wurde nach Meutereien abgesetzt und durch den defensiv orientierten Philippe Pétain ausgetauscht.

"Überprüfung des Zustands der Bevölkerung"

Was die Schützengräben betrifft, die Russland derzeit kilometerweit ausheben lässt, sprach der ukrainische Offizier Iwan Jakubets von einer "Überprüfung des moralischen und psychologischen Zustands der Bevölkerung". Militärisch seien die notdürftig und überhastet errichteten Sperranlagen unsinnig, doch sie könnten den Widerstandsgeist der Kreml-Fans in der Bevölkerung anfachen.

Dass das auch nach hinten losgehen kann, zeigte eine Kommandoaktion von rechtsextremen Freischärlern, die neulich von der Ukraine aus in russische Grenzdörfer eingefallen waren und dadurch Putins Grenzschutz blamiert hatten. Das nagte am Selbstbewusstsein des Kreml so sehr, dass die russische Armee nach eigenen Worten mit einem "Vergeltungsschlag" auf die ukrainische Infrastruktur reagierte und dabei viele sehr teure Raketen verbrauchte.

Ernst Jandls Lautgedicht wieder aktuell

Ein Krieg, in dem sich Soldaten in Schützengräben verbarrikadieren, war bis vor kurzem noch schwer vorstellbar, galt die schnelle Bewegung mit dem Einsatz von Panzern und Luftwaffe doch als Schlüssel zum Erfolg. Hinzu kommt: Seit dem Einsatz von ferngesteuerten Mini-Drohnen, die kleine Granaten mit Hilfe von Kameras direkt über den Gräben abwerfen können, haben Infanteristen eine deutlich geringere Überlebenschance. Die bisher eingesetzten, steil anfliegenden Mörser-Geschosse sind deutlich unpräziser. Dass trotzdem zahlreiche Erdbefestigungen in Zickzacklinien entstanden sind, ist bemerkenswert. Es mag daran liegen, dass es beiden Seiten an Fahrzeugen jeder Art fehlt.

Schon unheimlich, wie aktuell durch den neuen Stellungskrieg in der Ukraine Ernst Jandls berühmtes Lautgedicht "schtzngrmm" aus dem Jahr 1957 wurde. Dort fehlen die Vokale des "Schützengrabens" und es bleibt nur noch das Tosen der Geschosse, die mit vielen Konsonanten zischen, donnern und einschlagen. Kritiker haben dem Werk einst vorgeworfen, es mache beim lauten Vorlesen "zu viel Spaß" und bilde den Schrecken des Krieges nicht angemessen ab. Das war allerdings zu einer Zeit, als kaum einer damit rechnete, dass Taktiken aus dem Ersten Weltkrieg wieder dermaßen in Mode kommen würden.

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