Blick in die Ausstellung mit knallrotem Ledersessel und pilzförmigen Lampen
Bildrechte: Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker

"Retrotopia. Design for Socialist Spaces", Kunstgewerbemuseum Berlin und Kulturforum 2023, Ausstellungsansicht

    "Retrotopia": Sozialistisches Design in Berlin

    Während des Kaltes Krieges wurden Kunst und Design fürs geo-politische Kräftemessen der Supermächte USA und UdSSR instrumentalisiert. Die Berliner Ausstellung "Retrotopia" wirft einen neuen Blick auf das Design "Made in Ostblock".

    Farbige Glasbrocken funkeln wie vulkanisches Gestein in den schwarzen Scheiben, die im dunklen Raum hängen. "Cosmic Fantasy" – die atemberaubende Weltraumfantasie des litauischen Glasmalers Algimantas Stoskus, um 1965 entstanden, wiegt fünfhundert Kilogramm und ist nach Jahrzehnten im Depot eine der großartigen Wiederentdeckungen dieser Ausstellung. Das Buntglas wurde traditionell für Kirchenfenster verwendet, sagt die litauische Kuratorin Karolina Jakaitė. Als die Kirchen zu Sowjetzeiten verschwanden, tauchte das Material im öffentlichen Raum auf. "Das farbige Glas hat Hoffnung gegeben. Kosmische Vorstellungen, Blicke in den Himmel sind für jeden wichtig, um über die Ewigkeit nachzudenken. Das Material kam den Träumen entgegen, die verstorbenen Verwandten wieder treffen zu können. All diese Visionen sind im Buntglas enthalten", so Jakaitė.

    Ein Staubsauger mit dem Namen "Saturnas"

    Die elf Kojen der spannungsgeladenen Ausstellung "Retrotopia" am Berliner Kulturforum präsentieren jeweils ein Designbeispiel aus dem öffentlichen und eines aus dem privaten Raum. Die private Utopie, so Karolina Jakaitė sarkastisch, bestand darin, einen funktionierenden Gebrauchsgegenstand zu besitzen. Traum vieler Haushalte war der "Saturnas" – ein Staubsauger, kugelrund wie ein Planet: "Er erzählt vom Mangel. Aber er erzählt auch von den kosmischen Visionen, denn er heißt Saturn. Er war inspiriert von der Raumfahrt. Man darf nicht reisen, man kann nur träumen und sich diese Räume vorstellen."

    Design bot mehr Freiheiten als die Kunst

    1960 nahm ein Satellit das erste Bild der Erde aus dem Weltraum auf. Die Kugel wurde die Form für die Zukunft. Den Künstlern bot die Gestaltung die Chance, sich über politische Beschränkungen hinweg zu setzen. Für Claudia Banz, Kuratorin am Berliner Kunstgewerbemuseum, war die überraschendste Entdeckung, "dass Design im Unterschied zur Bildenden Kunst den größeren Freiraum für freies Denken, für Kreativität und künstlerische Entfaltung ermöglichte. Und das finde ich das spannendste: nicht die Kunst bot den Freiraum, sondern Gestaltung, Design."

    Die Regierungslounge im Flughafen von Bratislava, 1974 von Vojtech Vilhan und Ján Bahna entworfen, strahlte Eleganz, Luxus und Weltläufigkeit aus mit ihren Ledersesseln und cremeweißen Holzpaneelen. "Ich würde sagen, dass das Besondere an dieser Regierungslounge aus Bratislava gerade das Repräsentative ist, dass sich das Regime vor den internationalen Gästen als sehr progressiv präsentieren wollte", sagt Klára Prešnajderová, Kuratorin am Slowakischen Designzentrum in Bratislava. "Man hat wirklich die besten genommen, aber zugleich hatten die Designer und die Architekten mit Problemen der Zeit zu kämpfen, in denen das Land schon steckte, nach 1968, als die Normalisierung kam."

    Bildrechte: Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker

    "Retrotopia. Design for Socialist Spaces", Kunstgewerbemuseum Berlin und Kulturforum 2023, Ausstellungsansicht.

    Manchmal schufen die Gestalter eine Illusion

    "Normalisierung" hieß die Phase nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings. Manchmal schufen die Gestalter eine Illusion. In Ost-Berlin erfand ein Künstlerkollektiv zu den Weltjugendspielen 1973 ein neues Gesicht für den Sozialismus. Der farbenfrohe Auftritt weckte hohe Erwartungen, sagt Florentine Nadolni, Leiterin des Berliner Werkbundarchivs. "Man ging nicht mit Nationalflaggen vor, nicht mit roten Fahnen, auch nicht mit den Porträts von Marx und Lenin, sondern man nahm sich eine sehr moderne Farbkonstante in Regenbogenfarben. Und legte damit die Konstante für ein sehr heiteres, farbenfrohes, freundliches Design dieses großen Festivals im Sommer von 73."

    "Retrotopia": Die Berliner Ausstellung handelt von der Ungleichzeitigkeit, von Zukunftsvisionen der Vergangenheit. Die erste Koje aber ist der Ukraine gewidmet. Zu sehen sind Entwurfszeichnungen für Buntglasfenster aus Mariupol, Butscha oder Kiew. Viele von ihnen wurden im letzten Jahr zerstört. Die Schrecken der Vergangenheit hängen als unheimliche Last über dieser Schau, einer Vergangenheit, die wieder Gegenwart geworden ist.

    "Retrotopia Design for Socialist Spaces" ist bis 16. Juli im Kunstgewerbemuseum Berlin zu sehen.

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