Es ist September 2014. Nur wenige Monate zuvor hat Russland die Krim annektiert. In den Konferenzsälen der Christ-Erlöser-Kathedrale der Russisch-Orthodoxen Kirche, wo Pussy Riot 2012 seine Protestaktionen startete, trifft sich die Welt – denn es geht um ein Thema, das die Zukunft der Welt betrifft, so sehen es die Veranstalter: Es geht um die Familie, die traditionelle, die christliche, die große Familie.
Und die ist nach deren Meinung bedroht – vom "Genderismus", von Verhütungsmitteln und von Abtreibung, wie es die Publizistin Gabriele Kuby später in einem Veranstaltungsbericht auf einem sich selbst als katholisch bezeichnenden Portal formulieren wird. Es gehe um nicht weniger als darum, die "demografische Katastrophe" abzuwenden, eine Krise, "welche die Zukunft Russlands bedroht, nicht anders als die Zukunft Deutschlands und der meisten europäischen Länder", so Kuby damals.
Kuby: verurteile aktuellen Angriffskrieg aufs Schärfste
Den aktuellen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteile sie aufs Schärfste, schreibt die Publizistin auf BR-Anfrage. Aus der Teilnahme an dem Treffen damals eine Sympathie für die Politik Putins oder gar "Verflechtung" mit dem Kreml abzuleiten, entbehre "jeder Grundlage".
"Gewiss nicht einig" in Sachen Krim, aber ein "opulentes Buffet"
2014 noch bekennt die Autorin, dass sich die Menschen auf der Tagung "gewiss nicht einig" seien, "in der Frage, wie das Handelns Putins im Ukraine-Konflikt zu beurteilen ist". Gemeint ist damals die Annexion der Krim. Doch angesichts der "globalen Krise", die "die Natur und die Identität des Menschen angreift", scheuen die überwiegend christlichen Streiter für große Familien und traditionelle Werte nicht den Schulterschluss mit Putins Gesellschafts- und Familienpolitik. Als "Erfolge der russischen Familienpolitik" führt Kuby in ihrem Bericht unter anderem das Werbeverbot für Abtreibungen auf.
Des weiteren erfährt man aus dem Bericht von einem "opulenten Buffet", "dem man nicht anmerkt, dass Russland aufgrund seiner eigenen landwirtschaftlichen Sanktionen unter Engpässen zu leiden beginnt". Außerdem freut sich die Autorin über eine "grandiose Show zwischen den drei Kathedralen des Kreml. Die goldenen Zwiebeltürme leuchten in der Abendsonne, Lichtspiele verzaubern die Fassaden, Chöre, Tänzer, Sänger feiern das Leben und die Heimat."
Video-Botschaft aus dem Vatikan
Angereist sind damals unter anderem Patriarch Kyrill, der höchste Repräsentant der Russisch-Orthodoxen Kirche, aber auch Oligarch und Finanzier Wladimir Jakunin, Vertrauter von Präsident Putin, wie seine Frau Natalia Jakunina, außerdem Politiker aus Ungarn, Frankreich, Nigeria, Griechenland und den Philippinen. Putin lässt Grußworte übermitteln. Der damalige Vorsitzende des Päpstlichen Rates für die Familie, Erzbischof Vicenzo Paglia, schickt eine Video-Botschaft.
Gegründet wurde das Netzwerk, das die Familien-Welt-Kongresse organisiert, 1995 vom russischen Soziologen Anatoljj Antonov, damals Professor an der Moskauer Staatlichen Universität, und dem US-Amerikaner Allan Carlson. Der Deutschlandfunk zitiert Antonow in einem Bericht 2021 mit folgenden Worten: "Wir fragten uns: In den USA und in Westeuropa sinkt die Geburtenrate, die Ehe ist nicht mehr populär, und in Russland geschieht etwas Ähnliches. Wir wollten die Gründe dafür erforschen. Dabei hatten wir von Anfang an eine gemeinsame Basis: dass es ein traditionelles Familiensystem gibt, das universell ist für die Menschheit."
Denkfabrik - mit russischen Mitteln und katholischer Fürstin?
Für ein traditionelles Familienbild und einen konservativen Katholizismus setzt sich auch die einstige "Punk-Prinzessin" Gloria von Thurn und Taxis seit Längerem ein. Längst tritt sie nicht nur in der Öffentlichkeit für eben diese Werte ein, wenn sie sich etwa gegen Abtreibung und eine in ihren Augen zu frühe Sexualpädagogik stark macht. Auf BR-Anfrage reagiert sie im April 2022 zunächst nicht. Im Dezember 2022 ließ sie per Anwalt ausrichten, sie habe "nur ein kurzes Gastspiel" im Beirat des Kreml-nahen Think Tanks "Dialogue of Civilizations Research Institute" gehabt und "für diese Tätigkeiten kein Geld erhalten".
Deutsche Medien äußerten sich kritisch, was die Ausrichtung und die Ziele der Denkfabrik anging, deren Name ja den Dialog der Zivilisationen suggeriert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach von einem "Instrument der hybriden Kriegsführung". Unterstützung soll das Institut einem Bericht der taz zufolge von eben jenem Putin-Vertrauten und Oligarchen erfahren, der auch 2014 den Familienkongress in Moskau finanzierte: Wladimir Jakunin, bis 2015 Chef der russischen Bahn, der das "Gesetz zum Schutz Jugendlicher vor Homosexualität" lobte und im Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision-Song-Contest einen Beweis für den "moralischen Verfall im Westen" sah.
Die Seite des Think Tanks ist im Netz derzeit nicht zu erreichen. Auch auf seinem Twitter-Account ist es still.
- Zum Artikel: Russischer Patriarch: "Schwulen-Paraden" Hauptgrund für den Krieg
Stille statt öffentlicher Distanzierung
Die einstige Nähe zu Russland, die manche bekennend konservativ katholische Stimmen aus Deutschland pflegten: Ist sie mancherorts stillschweigend beerdigt worden? Sichtbar sei dabei nur die Spitze des Eisberges, sagt der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann.
Viele sehr konservative bis rechte Katholiken und Katholikinnen aus Deutschland hätten in der Vergangenheit die Nähe zu Russlands Präsident Putin und seinem genderfeindlichen und homophoben Kurs nicht gescheut, wollten davon aber heute nichts mehr wissen. Öffentliche Distanzierungen zu früheren Haltungen seien nicht zu vernehmen. "Man löst das Problem nach dem Kompostierungsprinzip." Es werde einfach eine neue Schicht darübergelegt.
Was Püttmann meint: Seit Putin in der Ukraine einmarschiert ist, hört man relativ wenig aus diesen Kreisen. Konservativ-katholische Foren und Seiten ergehen sich in theologischen Diskussionen zur päpstlichen Weihe von Russland und der Ukraine zum Unbefleckten Herzen Mariens. Und wo sonst in Putinmanier gegen liberale Werte und angebliche Meinungsdiktatur angeschrieben wurde, ist es still geworden.
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