Die Sprecherin des russischen Außenministeriums auf einer Pressekonferenz
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Maria Sacharowa

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"Putin hat Kontrolle verloren": Tobt ein Machtkampf im Kreml?

Eine Äußerung der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, hat Gerüchte angeheizt, wonach die Kreml-Elite zerstritten ist. Demnach sei es nicht möglich, eine einheitliche Informationspolitik wie zu Sowjetzeiten durchzusetzen.

"Es ist ein Kampf im Gange, auch unter den Eliten", sagte Maria Sacharowa auf einer Tagung in Moskau über die "praktischen und technischen Aspekte der medialen und psychologischen Kriegsführung in der modernen Realität" mit verblüffender Offenheit. Damit reagierte sie auf die Forderung des kremlfreundlichen Unternehmers und Netz-Experten Igor Aschmanow, der lautstark die "zwiespältige Informationspolitik" des Kreml kritisiert hatte. Er hatte bemängelt, dass die Armeeführung immer noch wirre Angaben mache und von einem "Krieg" offiziell nach wie vor keine Rede sein dürfe.

Im Übrigen erregte sich Aschmanow sarkastisch darüber, dass der Kreml ruhig weiter "lügen" könne, dass die russischen Bots und sozialen Netzwerke besser seien als die westlichen. Es müsse mehr Attacken auf angebliche "Nazis" in Kiew geben, wo Straßen und Museen nach Rechtsextremen benannt seien. Konkret machte der studierte Informatiker und Mathematiker den Vorschlag, die russische Informationspolitik so zu organisieren, wie es unter Stalin üblich war.

"Ich will nach Lemberg"

Von 1941 bis 1961 gab es das Sovinform-Büro, eine regierungsamtliche Nachrichtenagentur, die übrigens niemals den Fall von Kiew nach Hitlers Angriff gemeldet hat. Prominentester Radiosprecher war damals Juri Lewitan (1914 - 1983). Radikal-Nationalist Aschmanow vermisste ihn und verglich den so legendären wie berüchtigten "Moskau spricht"-Propagandisten aus dem Zweiten Weltkrieg direkt mit dem heutigen Armeesprecher Igor Konaschenkow, nicht zum Vorteil des Letzteren. Außerdem drohte der Unternehmer, er werde "das Maschinengewehr wegwerfen", wenn Putin die Truppen an den Grenzen des Donbass anhalten lasse: "Ich will nach Lemberg, sonst werden sie [die Ukrainer] eines Tages wieder zu den Waffen greifen und auf uns losgehen."

Tosender Applaus für Kreml-Kritiker

Daraufhin kam es auf dem Treffen von Nationalisten, das auch als "Medien-Kampfdrohne" bezeichnet wurde, zu einem hitzigen Wortgefecht mit Maria Sacharowa. Sie antwortete gereizt, der Ultrapatriot wolle wohl, dass sich Moskau an Kiew orientiere, wo es auch nur "eine Meinung" gebe. Auf die abermalige Vorhaltung, der Kreml solle sich an Stalins Vorbild halten, schoss Sacharowa zurück: "Genau dagegen sind wir." Etwas beleidigt erwähnte sie, ob niemand bemerkt habe, dass ihr Ministerium Propagandatexte, die früher innerhalb einer Woche übersetzt worden seien, inzwischen in 24 Stunden verfügbar seien: "Das ist ein kolossales Werk und ein Instrument der Einflussnahme, auch im historischen Vergleich." Sie sei jederzeit bereit, alle Dokumente zur Verfügung zu stellen, allerdings nicht etwa als Arbeitsnachweis: "Das ist wichtig für unsere zukünftige Generation, der dann gesagt wird, dass es uns gar nicht gegeben hat."

Aschmanow ließ sich jedoch davon keineswegs bremsen und legte nach: "Ich habe gesagt, dass wir keine einheitliche Stimme des Staates haben. Sie sind ja ganz unterhaltsam, aber die Stimme des Außenministeriums ist nicht berechtigt, über darüber [den Krieg] zu sprechen. Das Verteidigungsministerium kann oder will nicht darüber sprechen, was dort wirklich passiert. Im Allgemeinen warten wir auf die [angekündigte] Offensive, wir wissen Bescheid." Dafür soll Aschmanow nach russischen Medien "tosenden Applaus" bekommen haben.

"Sie wissen nicht, was sie als nächstes tun sollen"

In russischen Netzforen wird darüber kontrovers gestritten: "Wir müssen endlich aufwachen und verstehen, dass es unter den Wettbewerbsbedingungen im Internet, das insbesondere vom amerikanischen Google und YouTube kontrolliert und zensiert wird, sinnlos ist, solche Medien zu beeinflussen", hieß es in einem Kommentar. Ein anderer meinte, Söldnerführer Jewgeni Prigoschin solle als Ersatz für den erwähnten stalinistischen Nachrichtensprecher Lewitan angeheuert werden: "Er arbeitet bereits wie einst das sowjetische Informationsbüro."

Ebenso ironisch kommentierte Bloggerin Tatjana Fomina, die Sehnsucht nach Stalins vermeintlich durchschlagskräftiger Propaganda erkläre sich damit, dass die jetzige Elite zu Zeiten der UdSSR "jung" gewesen sei: "Das Gras scheint ihnen damals grüner, die saure Sahne dicker und der Brei süßer gewesen zu sein, das ist der erste Grund. Und der zweite, glaube ich, liegt darin, dass sie den Gegner nicht kennen und niemals verstanden. Sie wissen einfach nicht, wie und was sie als nächstes tun sollen."

"Putin kann die Kontrolle nicht mehr zurückgewinnen"

Das amerikanische "Institute for the Study of War" (ISW) griff den Vorfall in seinem Tagesbericht vom 11. März auf und schrieb: "Die Erklärung von Sacharowa ist bemerkenswert und bekräftigt mehrere der langjährigen Analysen des ISW über die sich verschlechternden Abläufe im Kreml-Regime und bei der Aufsicht über die Informationspolitik. Der Vorfall bestätigt mehrere Einschätzungen, nämlich dass es im Kreml interne Kämpfe zwischen wichtigen Mitgliedern von Putins innerem Zirkel gibt; dass Putin die russische Informationspolitik im Laufe der Zeit weitgehend an eine Vielzahl von quasi unabhängigen Akteuren abgetreten hat; und dass Putin offensichtlich nicht in der Lage ist, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, um die Kontrolle über darüber zurückzugewinnen. Es ist unklar, warum Sachrowa, eine erfahrene und hochrangige Sprecherin – diese Probleme in einem öffentlichen Rahmen offen anerkannte."

Einer der prominenten russischen Militärblogger mit rund 300.000 Followern kommentierte den Auftritt von Sacharowa: "Ich habe keinen Zweifel daran, dass Maria aus dem Innersten der Küche viel mehr darüber weiß, wer dort mit wem kämpft, als [ihr Gegner] Igor [Aschmanow], und natürlich geht es nicht nur um die Front im Donbass oder bei Belgorod. Und das macht es noch trauriger. Wenn es keine Einheit in der Elite gibt, von welcher Art von Sieg können wir dann sprechen? Schließlich liegen alle Hebel der Kontrolle in den Händen der Elite und nicht in der Gesellschaft." Immerhin habe die Sprecherin des Außenministeriums gesagt, sie sei "dankbar für jede Art von Hilfe", fügte der Blogger an.

"Lügen und Verdrehungen"

Ob Maria Sacharowa absichtlich oder aus emotionaler Erregung von Konflikten im Kreml sprach, bleibt offen. Kremlfans bezeichneten den eingangs zitierten Satz, der so viel Wirbel auslöste, als "geflügeltes Wort" ohne jede Aktualität. Sie selbst teilte auf ihrem Telegram-Konto die Meinungsäußerung eines wenig bekannten Bloggers mit gerade mal 5.000 Followern, der als Augenzeuge der "hitzigen Diskussion" schrieb, es sei eigentlich nur um mehr "Einheitlichkeit und Effizienz" beim Ringen um den Sieg gegangen, wenngleich die Teilnehmer "emotional" gesprochen und "scharf" argumentiert hätten. Dass Sacharowa jetzt im Nachhinein dermaßen Schlagzeilen mache, sei nichts anderes als eine Propagandaschlacht: "Lügen und Verzerrungen von eigentlichen Bedeutungen, Wortverdrehungen sind ihre [des Westens] Werkzeuge."

"Welche Lehren soll Sacharowa daraus ziehen?"

Aufschlussreich ist allerdings, dass selbst unter Augenzeugen der Veranstaltung ein wilder Streit darüber ausbrach, was denn nun konkret gesagt und vor allem gemeint war. Mitorganisator Alexej Tschadejew klagte, der aufsehenerregende Satz von Sacharowa sei von westlichen Medien "aus dem Zusammenhang gerissen" worden. Tatsächlich habe sie verständlich machen wollen, dass sich jeder Russe ganz persönlich entscheiden müsse, auf welcher Seite er steht. Der Wirbel sei in jeder Hinsicht bedauerlich.

"Welche Lehren sollten nach dieser Logik sowohl Sacharowa als auch jede andere amtliche Person [aus den Schlagzeilen] ziehen?" fragt Tschadajew: "Das liegt auf der Hand: Gehen Sie auf keinen Fall zu solchen Veranstaltungen, lassen Sie all diese Militärblogger nicht einen Kanonenschuss an sich heran und sondern Sie nur offizielle Parolen nach dreifacher Abstimmung mit allen Instanzen ab." Umgekehrt sollten sich die Nationalisten in einen Winkel zurückziehen, wo sie in aller Ruhe auf "Idioten, korrupte Beamte und Verräter" schimpfen und sich nach Stalin zurücksehnen könnten.

"Dann war ich es nicht"

Sacharowa, die "Ehrengast" der Diskussion war, hatte zu einem früheren Zeitpunkt bemerkt: "Es gab schon Fälschungen darüber, dass ich angeblich einen US-Pass habe. Sie logen auch darüber, dass ich in Amerika ein Kind zur Welt gebracht hätte. Mir wurden vergeblich superteure Taschen und Klamotten einiger Luxusmarken angedichtet. Was für einen Unsinn über mich selbst habe ich nicht schon gelesen. Anscheinend habe ich so viel von der liberalen Elite bekommen, dass sie anfingen, mich auf geradezu künstlerische Weise neu zu erfinden." Für alle beunruhigten Weggefährten hielt Sacharowa den Rat bereit: "Denken Sie daran und sagen Sie es allen anderen: Wenn irgendwo geschrieben steht, dass ich sage, dass wir es nicht hinbekommen, dass wir es nicht schaffen werden, dass wir es nicht schaffen können, dann war ich es nicht."

"Keine Lust, Gesellschaft zu spalten"

Die russischen Ultrapatrioten beschimpfen den Kreml und speziell das Verteidigungsministerium seit langem, weil von dort keine ausreichend vaterländischen Stellungnahmen kämen. Die "Propagandaschlacht" habe Russland längst verloren. Söldnerführer Jewgeni Prigoschin von der "Wagner"-Truppe arbeitet derweil nach Kräften daran, seine Gegner im Kreml gegeneinander auszuspielen: "Ich bin denen, die uns unterstützen, sehr dankbar. Natürlich habe ich keine Lust, die Gesellschaft zu spalten. Ich hoffe, dass die Meinung von Millionen Russen die militärnahen Bürokraten dazu zwingen wird, ihre Pflichten zu erfüllen."

Gänzlich unbescheiden forderte Prigoschin für seine Privatarmee monatlich umgerechnet eine Milliarden US-Dollar für Munition und Waffen. Den Einwand, das solle er als Oligarch doch selbst bezahlen, ließ er nicht gelten: "Ich habe keine politischen Ambitionen." Die Informationspolitik kritisierte Prigoschin anders als die rechtsextremen Nationalisten wegen zu vieler falscher Jubelmeldungen: Niemand solle der "Lokomotive voran laufen", wenn es neue Eroberungen gebe, werde er sie schon rechtzeitig bekanntgeben.

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