Seine Überreste wurden 2012 bei Bauarbeiten unter dem Pflaster eines Parkplatzes der englischen Stadt Leicester gefunden: Dort soll König Richard III. nach dem Tod in einer Schlacht einst bestattet worden sein. Inzwischen liegen seine Gebeine wieder "ordnungsgemäß" in der örtlichen Kathedrale. Shakespeare machte aus dem letzten Monarchen der blutigen Ära der "Rosenkriege" einen diabolischen Schurken, der seine Umgebung zu manipulieren versteht und vor keiner Grausamkeit zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben. Und genau so einen Charakter habe auch Putin, argumentiert die Soziologin Swetlana Stevenson von der London Metropolitan University in der "Novaya Gazeta Europe". Jedenfalls entspreche der skrupellose König eher dem Temperament des russischen Präsidenten als fiktive Filmschurken wie Darth Vader aus "Star Wars" oder Lord Voldemort aus der Harry-Potter-Reihe.
"Endloser Albtraum Machtverlust"
"Er ist eher wie Richard III.: klein, unscheinbar, anzüglich, mit seltsam schiefem Gang - Putin sieht schon äußerlich aus wie dieser Held", so Stevenson: "Shakespeares Richard sperrt seine Rivalen ein und tötet sie, auch diejenigen, mit deren Hilfe er an die Macht kam, diejenigen, die stets Macht beanspruchen könnten. Es gibt keinen größeren Drang in seinem Leben, als zu gewinnen, auf seinem Willen zu bestehen, diejenigen zu 'zerquetschen', die sich ihm widersetzen."
Es gehe um die autokratische Macht als Fluch, um die Panik vor dem Ende, wie es einst dem libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi und anderen bereitet worden sei: "Der Meister macht Geschichte, aber er wird oft ihr Opfer. Ein endloser Albtraum ist die Angst vor dem Verlust der Macht und damit dem Verlust des Lebens. Die leeren Straßen, durch die der Herrscher zieht, die langen Tische, an denen er mit den Menschen kommuniziert – all das verrät die Angst vor dem gewaltsamen Tod."
"Es droht schneller Ansehensverlust"
Der Kreml habe jedenfalls viel Grund zu Befürchtungen, so mehrere Fachleute, weil er mit der Mobilisierung den bisher geltenden "Gesellschaftsvertrag" gekündigt habe, wonach die Bevölkerung solang unbehelligt bleibe, wie sie sich nicht in die Politik einmische. "Die Obrigkeit sagt den Menschen, dass sie sich unermüdlich um sie kümmert und liefert imaginäre Gründe für Großmachtstolz, mischt sich aber nicht ernsthaft in die Angelegenheiten der Menschen ein. Als Reaktion darauf glaubt das russische Volk an seine Größe und Gottes Auserwähltheit und mischt sich nicht in die Angelegenheiten der Mächtigen ein und erlaubt ihnen, sich auf eigene Kosten zu bereichern", fasst der politische Analyst Alexander Kotschetkow die unausgesprochene Abmachung zusammen.
Er ist überzeugt, dass die öffentliche Unzufriedenheit mit der Zahl der Mobilisierten zunehmen wird: "Und auch beim Anblick des offensichtlichen Unrechts während der Mobilisierung, wenn hauptsächlich Menschen aus der Unterschicht rekrutiert werden."
Neue Repressionen: "Mal schauen"
Der russische Politologe Sergej Schmidt hält die Lage aus der Sicht des Kreml für "gefährlich" und spricht von einem "Plan C", denn die ersten beiden Vorhaben seien bereits gescheitert: Eine "Blitz"-Eroberung Kiews und eine monatelange Offensive. Die Mobilisierung sei eine "ernsthafte Herausforderung für die Behörden": "Außerdem ist leicht vorhersehbar, dass Fälle von Veruntreuung jetzt von der Opposition als Symptome einer bevorstehenden Katastrophe des Regimes dargestellt werden und so weiter. Es ist jetzt unmöglich, alle Informationsflüsse zu kontrollieren, und die Behörden müssen etwas tun, um die Wirkung solcher Informationen zu neutralisieren. Das sind zusätzliche Beschränkungen und Repressionen. Wie wird die Gesellschaft auf all das reagieren, denn die Behörden hat sie schließlich nicht nach den Regeln behandelt, die seit fast zwei Jahrzehnten mindestens eingehalten wurden. Mal schauen."
"Putin setzte Stabilität eigenhändig ein Ende"
Noch deutlich dramatischer formuliert es der Historiker Michail Sosnowsky: "Wladimir Putin hat den Einsatz höher denn je gesetzt. Und das gilt nicht nur in der Außenpolitik – es ist offensichtlich, dass sich im Westen niemand fürchtet und nicht einknicken wird – sondern auch in der Innenpolitik. 'Stabilität' war der Hauptrefrain der 22 Jahre von Putins Herrschaft. Dieser 'Stabilität' hat er eigenhändig ein Ende gesetzt. Die Russische Föderation befindet sich jetzt offiziell im Ausnahmezustand, und Gott weiß, wie er ausgehen wird."
"Staatsmaschine ist ins Haus gekommen"
"Vereinfacht ausgedrückt ging Putin das Risiko ein, Spannungen in einem kremltreuen Sektor der Gesellschaft zu erzeugen", so der Politikwissenschaftler Ilja Graschenkow: "Von der Spezialoperation bis zur Mobilisierung droht ein schneller Ansehensverlust. Jetzt ist der Kreml gezwungen, die negative Reaktion der Gesellschaft auf seine Entscheidungen zu neutralisieren. Doch wie schwierig die Situation wird, ist noch nicht klar."
Ein sofortiger Aufstand sei nicht zu erwarten, meint Politologe Michail Komin: "Die Leute werden immer noch beharrlich gedrängt, sich nicht in die Politik einzumischen und sich nicht an den Überresten der sanktionierten Wirtschaft zu bereichern, aber jetzt ist die Staatsmaschine zu Ihnen nach Hause gekommen und wird Ihren Sohn, Bruder oder Ehemann für ihre eigenen Zwecke mitnehmen. Darüber hinaus kann das jedem passieren, der nicht direkt zur Elite gehört, und wird regelmäßig passieren, da die Ziele des Krieges und das Dekret über die Mobilisierung wie 'Gummi' sind." Es sei schwer vorstellbar, dass Putin davon profitieren könne.
"Für Russen ist soziale Gerechtigkeit wichtig"
Bemerkenswert ist, dass der russische Präsident mit seiner Eskalationsstrategie einstweilen beide Seiten verärgert hat: Den Ultranationalisten ist er nicht forsch genug, weil er zum Beispiel den Austausch von Gefangenen zulässt, die lethargische Mehrheit fühlt sich in ihrer privaten Lebenswelt bedroht, viele verlassen in Scharen das Land, notfalls sogar auf Fahrrädern Richtung Georgien, wie die "Prawda" meldete.
Weggefährten wie der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko und der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow beeilten sich, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass in ihren Territorien keine Mobilisierungen geplant seien.
"Erstens stellte sich heraus, dass Putin nach der kalten Dusche, die China und 15 Herrscher der zentralasiatischen Staaten für ihn [beim Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand] bereit hielten, beweisen muss, dass er ein harter Junge ist, ein starker Anführer", meint der ukrainische Politikexperte Viktor Neboschenko. Auch er verweist auf den Bruch des "Gesellschaftsvertrags" und auf eine russische Eigenheit: "Für die Russen ist soziale Gerechtigkeit nicht weniger wichtig als die Macht Russlands. Vergessen Sie das nicht. Das sind die Menschen, die es lieben, aus irgendeinem Grund Revolutionen zu machen und sich dann selbst zu zerstören." Die Söhne der "Reichen und Beamten" würden jedenfalls nicht an die Front gehen, was "zu starken sozialen Spannungen" führen werde.
"Am Rande von etwas Beispiellosem"
Selbst kremltreue Kommentatoren bangen angesichts solcher Aussichten. Michail Rostowski vom auflagenstarken "Moskowski Komsomolez" schreibt keineswegs sonderlich patriotisch, sondern eher verzagt: "Es ist durchaus möglich – nur möglich, nicht garantiert –, dass wir uns schnell etwas sehr Verhängnisvollem nähern. Zum Beispiel bis zu dem Zeitpunkt, an dem das offizielle Kiew unter dem Druck höherer Gewalt gezwungen sein wird, eine klare Entscheidung zu treffen. Aber auf jeden Fall stehen wir definitiv am Rande von etwas Beispiellosem - es ist nicht klar, was genau, aber etwas, was die lebenden Generationen von Bürgern der Russischen Föderation noch nicht erlebt haben."
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