Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Aber was, wenn gar kein Wald mehr da ist, restlos abgeholzt, wie in Kim de l’Horizons Stück? Auf der Bamberger Studiobühne folglich: kein Baum nirgends. Dafür sehen wir die dampfenden Kühltürme eines AKWs in trister Einöde. Die Welt, wie wir sie kannten, scheint schon längst untergegangen zu sein, trotzdem will Gretel, die hier natürlich Greta heißt, sie retten. Das passt zur Lage unseres Planeten, der zwar noch da ist, aber womöglich ebenfalls schon unrettbar verloren.
Die Erde, abgefieselt wie ein Wiesnhendl
Der Hunger spielt wie im Grimm'schen Märchen auch bei Kim de l’Horizon eine Rolle. Nur leiden Hänsel und Greta hier nicht daran, weil ihre Eltern bettelarm sind und nichts zu beißen haben, sondern im Gegenteil: Weil diese mit alles verschlingender Gier die Erde so restlos abgefieselt haben wie die Oktoberfestbesucher die Wiesnhendl.
Fatal in diesem Zusammenhang, dass die Hexe in der Inszenierung von Wilke Weermann nicht im Lebkuchenhaus lebt, sondern in einem Wohnwagen, von dem es garantiert nichts abzuknuspern gibt. Dafür ist diese Witch, diese Hexe, gar nicht so bad, wie es im Titel heißt. Hexerei, sagt Kim de l’Horizon, selbst non-binär, sei eine queer-feministische Praxis, verbunden mit dem Glauben, dass alles miteinander verknüpft ist. Und so rät die Hexe Hänsel und Gretel für ihre Weltrettungsmission "Banden zu bilden".
Schnecken und Pilze als Verbündete
Andere Menschen lassen sich dafür aber leider nur schwer gewinnen, die meisten sind zu beschäftigt mit der Bewältigung ihres Alltags und der eigenen Selbstoptimierung, um sich auch noch um die Erde zu kümmern. Und so führt die Suche nach Verbündeten Hänsel und Gretel bald zu anderen Lebewesen. Zu den Lungenflechten, die überall dort zu finden sind, wo Ökosysteme noch intakt sind (weshalb sie in der Welt des Stücks so gut wie ausgestorben sind), zu Schnecken und Pilzen.
"Hänsel & Greta & The Big Bad Witch" ist ein wild wuchernder Text, verzweigt in zig Assoziationen, verstiegen, verwegen. Als hätte Kim de l’Horizon vor dem Schreiben selbst Magic Mushrooms eingeworfen. Regisseur Wilke Weermann dagegen scheint sich eher bei synthetischen Drogen bedient zu haben. Das Setting wirkt hoch artifiziell, die Schauspielerinnen stecken in neongrellen Kostümen, die aussehen, als hätte man Trachten mit Textmarkern koloriert. Und die Hexe ist nicht in Person, sondern nur als elektronisch verzerrte Stimme präsent, was der Verständlichkeit des Textes freilich nicht wirklich förderlich ist.
Wild wuchernde Inszenierung
Die Hexe unsichtbar, Hänsel und Greta dafür treten gleich doppelt auf. Bei einem Stück, das sowieso schon Bedeutungseben über Bedeutungseben stapelt, will einem dazu allerdings partout kein schlauer Gedanke einfallen, wieso die Titelfiguren auch noch gedoppelt werden müssen. Wären da nicht das symbiotisch harmonierende Schauspielerinnenquartett Wiebke Jakubicka-Yervis, Jeanne Le Moing, Alina Rank und Ewa Rataj, die neben Hänsel und Greta auch Pflanzen und Kleinstlebewesen spielend Leben einhauchen und denen man gern auch auf die abstrusesten inszenatorischen Abwege folgt – man sähe schon bald den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Und das, obwohl die doch gar nicht mehr da sind.
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