In meinem Regal stehen ungefähr 25 Coltrane-Platten, ja: These are one of my favorite things – und gerade dann, wenn mal wieder der Begriff "Jazz" zur Debatte steht und heiß darüber gestritten wird, ob diese Musik nun mit John Coltrane ihren Höhe- und Endpunkt erreicht habe oder der Free Jazz damit erst beginne, höre ich "Impressions", "Giant Steps" oder "Ascension" – eine von Coltranes letzten Aufnahmen.
John Coltranes neues Album "Both Directions at Once"
Umso aufregender dann diese Nachricht Anfang Juni 2018, mehr als 50 Jahre nach dem Tod des Saxophonisten: Ein Tonband ist aufgetaucht mit unveröffentlichtem Material, das Coltrane 1963 mit seinem "klassischen" Quartett – McCoy Tyner am Piano, Jimmy Garrisson am Kontrabass und Elvin Jones an den Drums – aufgenommen hat. "Both Directions at Once: The Lost Album" heißt nun das daraus entstandene neue Album – beide Richtungen gleichzeitig: Was kann damit gemeint sein?
Klassische Musik im Sinne Coltranes
"Vilia" etwa, ein wehmütiges Lied aus Franz Léhars Operette "Die lustige Witwe", das zeigt: Coltrane widmete sich nicht nur der Interpretation gängiger Broadway-Schlager, sondern auch Operetten-, ja, sogar Opernstoffen. Wer Coltrane kennt, den überrascht das freilich kaum, schließlich war Coltrane ein vielseitig interessierter Musiker, ein Intellektueller und eben nicht nur ein Afroamerikaner, der sich die leidvolle Sklavengeschichte, den Blues aus dem geschundenen Leib blasen musste.
Coltrane selbst zählte seine Musik sogar zur Klassischen Musik, nach einer ganz eigenen Definition: "Klassische Musik würde ich das nennen, was die Komponisten eines jeweiligen Landes ausdrücken, um sich mit ihrer Zeit auseinanderzusetzen," so Coltrane 1966 im japanischen Rundfunk, in einem der wenigen Interviews, die er gegeben hat. "Das kann ganz unterschiedliche Musik sein, die sich aber deutlich unterscheidet von der jeweils angesagten populären Tanzmusik. Insofern könnte man meine Musik durchaus auch klassisch nennen."
Auf dem Weg zu neuen Klangmustern
Ein "Klassiker" ist seine Musik heute auf jeden Fall: Das Album "Impressions" etwa, das war glasklarer Sound, unmittelbar, so als säße man direkt vor der Band. Was tüfteln die vielen Musiker heutzutage, um einen solchen Klang zu erzeugen, dabei ist die Aufnahme vom März 1963, aus dem gleichen Jahr wie das nun erscheinende neue Material. Coltranes bahnbrechendes Werk "A Love Supreme" (1964) war noch nicht erschienen, "My Favorite Things" (1960) und "Olé Coltrane" (1961) dagegen schon. Aber auch hier hört man schon modale Musik, die sich nicht mehr wie vorher auf Akkordprogressionen und ausgetüftelte Harmoniefolgen bezieht, sondern, gleich der indischen oder der arabischen Musik, auf Tonleitern, auf Skalen – was für damalige, westlich orientierte Hörgewohnheiten ganz neue Improvisationsmuster ermöglichte.
Diese modale Musik, die Coltrane im Miles Davis Quintett entdeckt und entwickelt hatte, war für den Saxophonisten Sprungbrett für Erkundungen des Unbekannten, des "Interstellar Space" (1967), des spirituellen Raumes. Die späte Musik Coltranes, die sich auch auf "Both Directions at Once" ankündigt, ist nicht mehr nur ein hochvirtuoses Improvisieren über Akkordstrukturen, sondern ein Gebet, ein Hymnus, ein ekstatisches sich Versenken in so etwas wie Urklang, Sound. Das legendär gewordene Quartett mit Mc Coy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones erweißt sich auch hier als ein Grand mit vieren, als die perfekte Quadratur des Kreises, wenn man so will.
Übertriebener Medienrummel
Der Medienrummel um diese lost tapes ist ein wenig übertrieben, weil nichts wirklich bahnbrechend Neues über diese unglaublich inspirierte Musik zu erfahren ist. Aber "Both Directions at Once" ist ein Wegweiser, Musik, selbst wenn sie erst 55 Jahre jung ist, immer wieder neu zu erleben. Denn einen wie Bach, Beethoven, Miles Davis oder eben Coltrane hat es bislang nicht wieder gegeben, auch das könnte ein Impuls zum Nachdenken sein.