Walter Ulbricht, Generalsekretär der SED, begriff die von ihm regierte DDR als das Gesamtkunstwerk, in dem sich die humanistischen Ideale der Klassik realisiert: Goethes Vision vom "freien Volk auf freiem Grund" sah er in der sozialistische DDR als Gegen-Reich zum "Dritten Reich" und als wahre Fortschreibung des Faust heraufkommen:
"Erst weit über 100 Jahre nachdem Goethe die Feder für immer aus der Hand legen musste, haben die Arbeiter und Bauern, die Angestellten und Handwerker, die Wissenschaftler und Techniker, haben alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik begonnen, diesen Dritten Teil des Faust mit ihrer Arbeit mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus zu schreiben." Walter Ulbricht 1962
Instrumentalisierung des Faust - so alt wie das Deutsche Reich
Die Instrumentalisierung von Faust im Namen der Diktatur des Proletariats war nicht der erste Versuch im Land der Dichter, den Klassiker ideologisch zu vereinnahmen. Eine explizit ideologische Vereinnahmung der "Faust"-Dichtung stand von Beginn an im Dienst deutsch-nationaler Identitätsbildung.
"Mit der Reichsgründung 1870/71 fangen Versuche an, literarisches Erbe und nationalliterarische Werke, in dem Falle auch Goethe und Goethes 'Faust' im Besonderen zu vereinnahmen, zu funktionalisieren. Und im Kaiserreich ist es so, dass z.B. Treitschke, der preußische Historiker, Rezeptionslinien vorgibt, die jahrzehntelang bedeutsam sind. Ganz schlicht und einfach: Das Nationale, das Deutsche schlechthin, das deutsche Wesen," erklärt der Literaturwissenschaftler Wilhelm Heafs. Wobei man wieder unterscheiden müsse zwischen der Faustfigur, die rezipiert und natürlich auch erhöht und letztlich enthistorisiert werde und dem Begriff des Faustischen. Im 19. Jahrhundert geprägt, bedeute er das, was das deutsche Wesen ausmachen solle. Auch die vor allem in Dritten Reich virulent werdenden Rezeptionsmuster gehen auf die frühe Rezeption zurück: etwa die Entdeckung der militärischen Dimension in Faust II, des Eroberer-Typus, des aktivistischen Typus.
"Faust im Braunhemd"
Tatkraft, Dynamik und ein ungebremstes Streben, das bei allen Irrwegen doch zum Ziel kommt, sind zentrale Stereotype dieser deutsch-titanischen Faustdeutung, programmatisch von Kurt Engelbrecht 1933 in seinem Buch "Faust im Braunhemd" auf die Spitze getrieben. Doch so wirkmächtig dieser verkürzende Blick auf Goethes "Faust" im "Dritten Reich" wurde, so deutlich gab es von Anfang an Widerspruch gegen ihn. Und das liegt wohl an dem Stoff der Tragödie "Faust I und II" selbst, der durch und durch komplex, widersprüchlich und latent subversiv ist - solange dieser Dramenstoff nur rezipiert und als nationale Dichtung hochgehalten wird:
"Im Grunde war dieses Hochhalten des Faust und bitte schön auch die Fehlinterpretation insofern ja auch positiv wiederum, weil das die Türen auf machte für eine Auseinandersetzung mit diesem ja durch und durch weltpolitischen, kosmopolitischen Geist wie Faust. Mit seinem wirklich humanistischen Menschenbild mit seiner Toleranz mit seiner Liberalität mit seine Fortschrittlichkeit für die Zeit gesehen. Das fand ja wirklich statt", betont DDR-Historiker Stefan Wolle. Und das passierte auch in der DDR.
Faust I oder Der Skandal am Deutschen Theater Berlin 1968
Doch Regisseur Adolf Dresen trotzte dieser ideologischen Instrumentalisierung des Faust und inszenierte 1968 auf der Bühne des Staatstheaters der DDR, einen Faust, der die Zuschauer zum Lachen und die Mächtigen zu lauten Protestn brachte:
"Wir fühlten uns nicht verpflichtet auf das Wort Ulbrichts in der DDR würde der dritte Teil Faust geschrieben, das hielten wir alle für ziemlich albern." Regisseur Adolf Dresen über seine Faust-Inszenierung 1968 am Deutschen Theater Berlin
Zu sehen waren: ein Faust, der nicht entschlossen und bedeutend war, sondern verzweifelt, listig, manchmal kleinlich. Ein Gott, der tatsächlich auf der Bühne gezeigt wurde, anstatt im atheistischen Land eine Leerstelle zu bleiben. Gretchen, das nicht in unschuldiger Erhabenheit strahlte, sondern sozial determiniert wirkte. Aktuelle kulturpolitische Spitzen im Walpurgisnachttraum: all das war für die Kulturfunktionäre der SED nicht hinnehmbar. Regisseur Adolf Dresen und Intendant Wolfgang Heinz wurden von der Partei gezwungen, Änderungen an ihrer Inszenierung vorzunehmen. Das Stück blieb trotzdem ein Publikumsrenner.