Rund 15.000 jüdische Menschen aus ganz Europa baten während des Nationalsozialismus Papst Pius XII. und den Vatikan um Hilfe. Emotional schildern sie in Briefen Gräuel, Verfolgung und Todesangst. Im Forschungsprojekt "Asking the Pope for Help" erfassen der Kirchenhistoriker Hubert Wolf und sein Team der Universität Münster jetzt diese Bittschreiben, die in den vatikanischen Archiven lagern, und bereiten sie in einer kommentierten digitalen Edition für die Öffentlichkeit auf. Finanziert wird das Projekt unter anderem von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft sowie vom Auswärtigen Amt. In München in der Katholischen Akademie Bayern wurde das Projekt "Asking the Pope for help" am Montagabend vorgestellt.
15.000 Hilferufe europäischer Juden erreichten Vatikan
"An seine Majestät. Den Papst. Vatikan. Hochverehrte Hochwürden. Bevor ich den letzten Schritt meines jungen Lebens tue, das noch keinen rosigen Tag gesehen hat, wage ich es, seine Hochwürden um Hilfe zu bitten. Es ist aus höchster Not und Verzweiflung." So beginnt ein Bittschreiben eines 20-jährigen jüdischen Studenten aus Berlin. 15.000 solcher Hilferufe europäischer Juden erreichten den Vatikan während der Zeit von Papst Pius XII., der ab 1939 Oberhaupt der katholischen Kirche war. Es sind Dokumente unermesslichen Leids.
Bei der Öffnung der vatikanischen Archive im Jahr 2020 wurden die Bittschreiben entdeckt. Damals waren auch Kirchenhistoriker aus Deutschland nach Rom gereist. Ihr Ziel war eigentlich, eine neue Biographie über Papst Pius XII. und seine Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben. Angesichts des besonderen Funds änderten die Wissenschaftler um Professor Hubert Wolf von der Universität Münster ihren ursprünglichen Plan: "Müssen wir nicht die Biografien von 15.000 jüdischen Menschen schreiben? Müssen wir nicht den Menschen wieder eine Stimme geben, deren Andenken die Nazis auslöschen wollten? Ist das nicht unsere Pflicht als deutsche Theologen und Historiker?", meint Historiker Wolf.
Bittbriefe zeigen: Vatikan hat in vielen Fällen geholfen
Um eine Wohnung, ein Versteck, Geld, ein Visum bitten die Jüdinnen und Juden häufig. Oder die Briefschreiber fragen nach Informationen über ihre deportierten Angehörigen. Die Wissenschaftler haben längst nicht alle Briefe gelesen. Aus den vielen bisher gesichteten Fällen aber wird klar: Der Vatikan hat tatsächlich vielen Jüdinnen und Juden geholfen. Zumindest wurden einige Briefe auch Papst Pius XII. persönlich vorgelegt. "Papst Pius XII. musste aufgrund dieser Briefe gewusst haben, was sich im nationalsozialistischen Deutschland abgespielt hat, in welcher Gefahr, in welcher Bedrohungslage sich Juden befanden, das wird klar ersichtlich", sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Bis heute ist umstritten, wie das Handeln von Papst Pius XII. bewertet werden soll. Sein Verhalten gegenüber dem NS-Regime wird kontrovers diskutiert. Durch das Forschungsprojekt "Asking the Pope for help" erhofft sich nicht nur Josef Schuster neue Erkenntnisse. "Es geht ganz klar um die Frage, ob Papst Pius XII. seliggesprochen werden soll. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, dass das Verhalten der Kurie nicht so war, wie es hätte sein sollen. Ich finde es ganz wichtig, dass aufgrund dieses Projekts die Diskussion, was hat der Vatikan gewusst, was hat der Vatikan gemacht und nicht gemacht, klar beantwortet werden kann", sagt der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Zum Jahresende ist eine Auswahl öffentlich zugänglich
Die Kirchenhistoriker aus Münster um Hubert Wolf wollen in den nächsten zehn Jahren alle Dokumente in ein digitales Archiv einpflegen und auswerten. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur, meint Wolf: "In einer Zeit wie heute, in der der Antisemitismus derart grassiert, ist es wichtig, dass wir diese Zeitzeugendokumente hörbar machen. Und, dass wir sie auch in einer Anti-Antisemitismuserziehung in der politischen Bildung nutzen. Wir müssen Formate finden, die auch junge Leute ansprechen."
Die Leiden der europäischen Jüdinnen und Juden sollen nicht vergessen werden. Am Ende des Jahres werden auf einer Website bereits erste Ergebnisse und eine Auswahl der Bittschreiben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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