Vor genau 81 Jahren, am 21.5.1944, hat Astrid Lindgren ihrer Tochter Karin die Geschichten in Textform überreicht, die sie bis dahin frei erzählt hatte. Sogar eine eigene kleine Illustration hatte sie aufs Deckblatt gezeichnet: ein Mädchen mit roten, abstehenden Zöpfen. Pippi Langstrumpf. Gut eineinhalb Jahre später erscheint das Buch in Schweden und wird auf Anhieb ein Erfolg.
Nur Absagen von deutschen Verlagen
Dass die Pippi-Langstrumpf-Geschichten auch in Deutschland einmal zu den erfolgreichsten Kinderbüchern überhaupt gehören sollten, danach sah es erst mal nicht aus. Fünf deutsche Verlage hatten das Manuskript von Astrid Lindgren abgelehnt. Doch im Frühling 1949 reist Friedrich Oetinger nach Stockholm. Auf der Suche nach neuem Stoff für Kinderliteratur für das durch den Krieg zerstörte Land. "Wenn du als Verleger eine Zukunft haben willst, musst du nachholen, aus Deutschland herauszukommen", hatte ein Freund ihm geraten. In einem Stockholmer Buchladen hört er zufällig, wie über "Pippi Langstrumpf" geredet wird. Er möchte die Autorin kennenlernen.
Astrid Lindgren hatte wohl keine großen Erwartungen an dieses Treffen, erzählt Micke Bayart, der gerade sein neues Buch "Als Pippi nach Deutschland kam" herausbringt. "Als Friedrich Oetinger fragte, ist es möglich, das Buch in Deutschland zu veröffentlichen, meinte sie eben 'von mir aus gern' – the rest is history."
Pippi ist bunt und fantasievoll, aber auch herausfordernd
"Pippi Langstrumpf" erscheint also im November 1949 in Deutschland – und die Geschichten kamen beim jungen Publikum gut an! Das habe auch an Lindgrens erzählerischer Haltung gelegen, meint Micke Bayart: Sie biete Kindern in ihren Büchern zwar eine bunte, fantasievolle und fröhliche Welt, aber ohne sie dabei zu schonen. "Die Kinder konnten sich mit Pippi identifizieren. Nicht nur, weil es Süßigkeiten gab. Es gab viel zu essen, was ja auch nicht immer Gang und Gäbe war nach dem Zweiten Weltkrieg."
Ebenfalls ungewöhnlich: Die jungen Leserinnen und Leser konnten mit Pippi auf Reisen gehen, in die Südsee und andere Länder. Und auch diese Gefühle konnten Kinder mit Pippi teilen, fügt Micke Bayart hinzu: "Pippis Vater war verschollen. Pippis Mutter war tot, und damals hatten ja viele auch ein Elternteil, das nicht mehr aus dem Krieg zurückkam oder als verschollen galt. Also da gab es viele Parallelen, wobei man sich wiedererkennen konnte."
Inger Nilsson als Pippi im Film "Pippi in Taka-Tuka-Land" (S/BRD 1970)
Pippi räumt mit den Erziehungsmethoden der Nazizeit auf
Lindgren hat ihre Geschichte bewusst so angelegt. Während des Kriegs hatte sie für den schwedischen Geheimdienst gearbeitet, Briefe von Soldaten geöffnet. Eine prägende Erfahrung, die für Lindgren die Erkenntnis mit sich brachte: Für eine bessere Zukunft müssen wir gut zu den Kindern sein.
Pippi, die mit einem Affen, einem Pferd und einem Koffer voll Gold in einer Villa lebt und den Meinungen der Erwachsenen um sich herum keinerlei Bedeutung beimisst, ist dann tatsächlich etwas komplett Neues in den deutschen Kinderzimmern. Dort sind die Erziehungsmethoden der Nationalsozialisten nach Kriegsende ebenso wenig verschwunden wie überzeugte NSDAP-Mitglieder als Lehrer aus den Klassenräumen. In einer Welt, in der Kinder sich unterzuordnen haben, hat Pippi etwas, das Kindern damals eigentlich nicht zusteht, erzählt Astrid Lindgren in einem Interview: Macht.
Pippi Langstrumpf: Kein typisches Mädchen
Und dann hat diese Macht ausgerechnet ein Mädchen. Auch darüber hat sich Astrid Lindgren in einem Interview geäußert: "Vor allem, dass Pippi ein Mädchen war, das war merkwürdig. Das haben viele Mädchen zu mir gesagt, dass wenn Pippi ein Knabe gewesen wäre, dann existierte sie nicht mehr." Denn für einen Jungen wäre es nicht so außergewöhnlich, ein Pferd hochzuheben und auf Abenteuer-Walz zu gehen.
Pippi entzieht sich binären Geschlechtervorstellungen. Dass eine solche Figur schon im Deutschland der 1950er-Jahre erfolgreich werden konnte, lagt auch an der immensen Förderung durch die Berliner Hauptjugendamt-Mitarbeiterin Louise Hartung, die populäre Lesekreise mit Pippi-Lektüre veranstaltete und das Buch an Kinderheime verteilte. Den endgültigen Durchbruch für Pippi in Deutschland brachten dann die Verfilmungen in den 1970er-Jahren, die perfekt zu einem liberaleren Zeitgeist passten, den Pippi schon dreißig Jahre vorher mitgeprägt hatte.
Micke Bayart: "Als Pippi nach Deutschland kam. Ein Buch voller Krummeluspillen, Spunk und Plutimikation", erschienen bei Oetinger 2025.
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